Timur und sein Trupp Arkadi Gaidar Übersetzung aus dem Russischen von L. Klementinowskaja Bearbeitet von Ruth Gerull-Kardas Illustrationen: Kurt Zimmermann DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN 1965 Satz und Druck: Karl-Marx-Werk Pößneck 16. Auflage 1965 Für Leser von 11 Jahren an Nun war Oberst Alexandrow, Kommandeur einer Panzerabteilung, schon seit drei Monaten von daheim fort. Er war an der Front. Im Hochsommer bekamen seine Töchter Olga und Shenja, die allein in Moskau zurückgeblieben waren, ein Telegramm von ihm. Der Vater schlug vor, sie sollten den Rest ihrer Ferien auf der Datsche, nicht weit von Moskau, verbringen. Nun galt es, die Übersiedlung vorzunehmen. Olga, die ältere der beiden Schwestern, gab dazu die nötigen Anweisungen, während die kleinere, Shenja, mit unzufriedenem Gesicht vor ihr stand; sie hatte das bunte Kopftuch in den Nacken geschoben und stützte sich auf einen Besenstiel. Olga sagte gerade in entschiedenem Ton: „Also, ich fahre jetzt gleich mit unseren Sachen voraus; du mußt erst noch die Wohnung aufräumen, Shenja. Mach nur kein so empörtes Gesicht; Stirnrunzeln und Grimassenschneiden nützt dir gar nichts. Hör gut zu: Wenn du alles sauber gemacht hast, verschließt du die Wohnungstür und bringst die entliehenen Bücher zur Bibliothek zurück. Du gehst aber nicht erst noch zu deinen Freundinnen, sondern direkt zum Bahnhof. Dort gibst du dieses Telegramm an Papa auf … Dann setzt du dich in den Zug und fährst ins Dorf … Du weißt, daß du mir gehorchen mußt, Jewgenja. Schließlich bin ich deine Schwester.“ „Na, ich bin doch auch deine Schwester.“ „Das schon, aber ich bin die ältere … und Papa hat es so angeordnet.“ Das Auto war vorgefahren, das Gepäck verladen. Als der Motor endlich zu fauchen begann, atmete Shenja erleichtert auf. Nachdem Olga glücklich fort war, blickte sie sich etwas ratlos um. Wüstes Durcheinander umgab sie. Zuerst trat sie aber doch noch vor den Spiegel. Von der gegenüberliegenden Wand lächelte im Spiegel das Bild des Vaters sie an. Shenja sah immer noch etwas mißmutig drein. Was mußte Olga sie so herumkommandieren? Gewiß, sie war die Ältere, und vorläufig mußte Shenja ihr wohl oder übel noch gehorchen. Doch in ihrem Spiegelbild stellte sie befriedigt fest, daß ihre kecke Nase, ihre aufgeworfenen Lippen und die dichten Augenbrauen denen des Vaters glichen. Mit ihrem Charakter würde es gewiß nicht anders sein. Energisch knotete Shenja jetzt das Kopftuch fester; dann zog sie die Schuhe aus und schleuderte sie beiseite. Suchend blickte sie sich um. Was mußte zuerst geschehen? Sie riß die Tischdecke vom Tisch. Dann ging sie in die Küche, stellte den Eimer unter den Wasserhahn und zündete den Petroleumkocher an. Bald begann das Wasser zu zischen. Shenja nahm den Besen und fegte den Unrat auf dem Fußboden zusammen und zur Türschwelle. Sie holte den Wassereimer und die Wischlappen, und bald bespülten Wasserfluten den Fußboden. In einer Wanne hatte sie Seifenwasser bereitet. Der Schaum knisterte, und Shenja kletterte unternehmungslustig auf das Fensterbrett. Ein wenig verwundert blickten die Vorübergehenden herauf und sahen das barfüßige kleine Mädchen im roten Sarafan, wie es fröhlich singend auf dem Fenstersims des dritten Stockwerks stand und offenbar furchtlos und schwindelfrei die Scheiben der weitgeöffneten Fenster putzte. Indessen sauste das Lastauto, das Olga nach der Datsche bringen sollte, die breite sonnenbeschienene Landstraße entlang. Olga hatte es sich in einem Korbsessel bequem gemacht. Sie hatte die Füße auf einen Koffer gestellt und sich ein weiches Bündel in den Rücken geschoben. Auf ihrem Schoß lag ein rotbraunes Kätzchen; es schnurrte und zerpflückte spielerisch mit seinen Pfoten einen Kornblumenstrauß. Etwa beim dreißigsten Kilometerstein wurde der Lastwagen von einer motorisierten Kolonne der Roten Armee überholt. Die Rotarmisten saßen in Reihen auf den Holzbänken, die Gewehre mit den himmelwärts gerichteten Läufen zwischen den Knien. Sie sangen. Wie schön das klang! Im Dorf wurden Türen und Fenster weit aufgerissen. Kinder sprangen aus den Hauseingängen und hinter Zäunen hervor. Sie winkten und warfen den Rotarmisten Äpfel zu. Daß sie noch nicht ganz reif waren, störte ihren Eifer nicht. Sie begleiteten die Wagen, die sich in einer Staubwolke rasch entfernten, mit begeistertem Hurrageschrei. Kaum waren die Truppen vorüber, da entbrannte schon eine Schlacht; die Kinder machten blitzartige Kavallerieangriffe und schlugen sich unbekümmert durch Brennesseln und Wermutstauden. Es dauerte nicht lange, da bog das Lastauto mit Olga und ihrem Kätzchen in den kleinen Kurort ein und hielt vor einem efeubewachsenen Landhäuschen an. Der Fahrer und sein Gehilfe klappten die Seitenwände herunter, halfen Olga beim Absteigen und begannen das Gepäck abzuladen. Olga hatte indessen die Tür zur Glasveranda geöffnet. Von hier aus konnte man den großen, stark verwilderten Garten übersehen. An seinem Ende ragte ein einfacher zweistöckiger Schuppen empor. Auf dem Dach dieses Schuppens erblickte Olga eine kleine rote Fahne. Sie ging zum Auto zurück, um den Fahrer zu entlohnen. Während sie noch mit ihm sprach, kam eine ältere Frau in den Garten. Es war die Milchhändlerin aus dem Nachbarhaus. Sie begrüßte Olga und erbot sich sogleich, das Haus sauber zu machen, die Fenster zu putzen, die Fußböden zu reinigen und die Wände abzuseifen. Als Olga ihr erfreut zustimmte, lief sie rasch davon, um Eimer, Schüsseln und Lappen herbeizuholen. Olga hatte das Kätzchen auf den Arm genommen und war mit ihm in den Garten gegangen. Es war glühend heiß. Das Harz an den Bäumen glitzerte in der Sonne. Spatzen hatten die überreifen Kirschen angepickt. Es duftete stark nach Kamille und Wermut. An den Sträuchern glänzten noch die roten Trauben der Johannisbeeren. Olga schlenderte die Wege entlang; als sie zu dem Schuppen kam, sah sie etwas verwundert, daß sich merkwürdige Fäden und Drähte von dem schadhaften Dach nach oben zogen und sich im Laub der nahen Bäume verloren. Olga beachtete diesen Umstand nicht weiter. Während sie unter den Nußbäumen weiterging, streifte sie Spinnweben vom Gesicht; als sie dabei zufällig einmal hochblickte, blieb sie erstaunt stehen. Die rote Fahne war von dem Dach verschwunden; nur noch die leere Stange ragte empor. Und nun glaubte Olga hastiges, aufgeregtes Flüstern zu vernehmen; plötzlich stürzte die schwere Leiter, die am Fenster des Schuppens angelehnt gestanden hatte, polternd zu Boden und riß dabei krachend dürre Äste mit sich. Die merkwürdigen Fäden über dem Dach begannen zu zittern. Das Kätzchen, das sich ängstlich an Olgas Händen festgekrallt hatte, machte sich los und sprang mit einem Satz in die Brennesseln. Olga war erschrocken stehengeblieben. Sie sah sich suchend um und horchte. Doch sie konnte weder im Gebüsch noch hinter dem Nachbarzaun oder in dem schwarzen Viereck des Schuppenfensters jemand entdecken. Zu hören war jetzt auch nichts mehr. Etwas verstört kehrte Olga zur Veranda zurück. Auf ihre Frage erklärte ihr die Milchfrau eifrig: „Das sind Kinder. Sie treiben sich in fremden Gärten herum. Gestern haben sie beim Nachbarn zwei Apfelbäume geplündert, einen kleinen Birnbaum haben sie umgeknickt. Ach ja, was es jetzt für Gesindel gibt… Solche Lausebengels! Mein Sohn ist bei der Roten Armee, meine Liebe“, fuhr die redselige Frau fort. „Als er ging, war er gar nicht niedergeschlagen. Im Gegenteil, er hat gepfiffen und gesungen, der liebe Junge. Leb wohl, Mama, hat er gesagt. Na, wie es aber so ist, abends wurde ich doch traurig und habe geweint. In der Nacht wache ich auf, und es kommt mir vor, als schleiche draußen jemand herum, als werde mit etwas geworfen. Ich denke bei mir: Ach, ich bin ganz allein, und keiner wird mir beistehen… So alt wie ich bin, kann mich eine Kleinigkeit umbringen! Ein Ziegelstein auf den Kopf, und aus ist’s! Doch das liebe Gottchen hat sich meiner erbarmt“, fuhr die Alte lebhaft fort. „Nichts ist gestohlen worden. Sie haben nur ein bißchen herumgeschnüffelt und sich wieder aus dem Staube gemacht. Aber denken Sie nur, bei mir draußen auf dem Hofe steht ein Eichentrog, den können zwei Leute nicht von der Stelle rücken. Nun, der war heute morgen zwanzig Schritte vor bis ans Tor geschoben. Das war alles. Was das nun für Leute waren, weiß ich nicht. Es ist und bleibt rätselhaft.“ Die Alte schwieg, und Olga wußte nichts zu erwidern. Als es dämmerte und die Frau mit dem Aufräumen fertig war, ging Olga vors Haus. Sie setzte sich und nahm das Akkordeon, das der Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, behutsam aus der Lederhülle. Die weißen Perlmuttknöpfe glänzten. Sie nahm das Instrument auf die Knie, warf den Riemen über die Schulter und probierte die Melodie zu einem Liede, das sie unlängst gehört hatte. Es ging etwa so: „Ach, wenn ich euch nur einmal, nur einmal noch sehen könnte! Ach, nur ein einziges Mal… Fern seid ihr von hier, wann kehrt ihr zurück? Ach, ich weiß es nicht. Doch ihr kehrt zurück – irgendwann!“ Während Olga das Lied vor sich hin summte, warf sie zuweilen einen kurzen forschenden Blick zu dem dunklen Gebüsch hinüber, das sich vor dem Hause entlangzog und den Zaun verdeckte. Nachdem sie geendet hatte, stand sie rasch auf, trat auf das Gebüsch zu und fragte ins Dunkel hinein: „Wer ist denn da? Versteckt sich da jemand? Was suchen Sie hier?“ Ein junger Mann kam aus dem Gebüsch heraus. Er trug einen weißen Sommeranzug, machte eine Verbeugung und sagte in höflichem Ton: „Ich verstecke mich nicht. Ich wollte Sie nur nicht stören; denn ich bin selbst ein wenig Künstler. Ich habe da gestanden und hörte Ihnen zu.“ „Das hätten Sie doch auch von der Straße aus tun können“, erwiderte Olga trocken. „Weshalb sind Sie denn über den Zaun geklettert?“ „Ich, über den Zaun geklettert?“ Er schien beleidigt. „Na, hören Sie mal, ich bin doch kein Kater. Da drüben am Ende des Zaunes fehlen ein paar Latten. Ich bin von der Straße aus ganz einfach durch diese Öffnung hereingekommen.“ „Das ist allerdings einleuchtend“, meinte Olga lächelnd. „Dann seien Sie doch bitte so freundlich und gehen Sie durch diese Pforte wieder auf die Straße zurück.“ Der junge Mann gehorchte. Ohne ein Wort des Widerspruchs ging er durch die Gartenpforte und verschloß sie hinter sich. Olgas Mißtrauen legte sich. „Warten Sie“, rief sie, lief die Stufen hinab und hielt ihn zurück. „Was für ein Künstler sind Sie? Sind Sie Schauspieler?“ „Nein“, antwortete der junge Mann. „Ich bin Ingenieur, aber in meiner freien Zeit spiele ich auch Theater und singe im Chor unserer Werkoper.“ Nun tat Olga etwas Unerwartetes. Sie trat näher an den Zaun heran und bat schlicht und ohne Umschweife: „Hören Sie, wir kennen uns zwar nicht, doch ich habe Vertrauen zu Ihnen. Bitte begleiten Sie mich doch zum Bahnhof. Ich erwarte meine jüngere Schwester. Es ist bereits dunkel und spät, und sie ist immer noch nicht da. Ich habe zwar keine Angst, allein zu gehen, aber ich kenne mich hier im Ort noch nicht aus. Halt, warum öffnen Sie denn die Pforte? Sie können mich doch auf der Straße erwarten.“ Olga brachte das Akkordeon ins Haus zurück, nahm ein Tuch um die Schultern und trat auf die finstere, nach Blumen duftende, taunasse Straße hinaus. Sie war böse auf Shenja, deshalb sprach sie unterwegs auch wenig mit ihrem Begleiter, sondern hing ihren Gedanken nach. Der Fremde hatte ihr gesagt, sein Name sei Georgi Garajew und er arbeite als Ingenieur in einer Autofabrik. Sie warteten zwei Züge ab, doch Shenja ließ sich nicht blicken; auch mit dem dritten und letzten Zuge kam sie nicht. „Nur Ärger hat man mit dem unfolgsamen Ding“, meinte Olga verdrießlich. „Wäre ich wenigstens dreißig oder vierzig Jahre alt, dann müßte sie mir gehorchen, aber sie ist dreizehn, und ich bin achtzehn, darum hört sie nicht auf mich.“ „Es müssen ja nicht gleich vierzig Jahre sein“, widersprach Georgi energisch. „Achtzehn gefällt mir viel besser. Und machen Sie sich keine unnützen Sorgen. Ihre Schwester wird sicher morgen mit dem ersten Zug kommen.“ Auf dem Bahnsteig war es inzwischen völlig menschenleer geworden. Georgi hatte sein Zigarettenetui herausgenommen, als plötzlich zwei kräftige, beinahe erwachsene Jungen, jeder eine Zigarette in der Hand, an ihn herantraten und ihn um Feuer baten. Georgi stutzte einen Moment, dann entzündete er ein Streichholz und leuchtete dem älteren ins Gesicht. „Junger Mann“, sagte er mißbilligend, „ehe Sie gerade mich um Feuer bitten, täten Sie gut daran, erst einmal höflich zu grüßen, denn ich hatte, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, vorhin bereits die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, als Sie – sehr arbeitsfreudig, wie ich zugebe – aus dem neuen Zaun zwei Bretter herausgerissen haben. Sie heißen Michael Kwakin, wenn ich nicht irre? Stimmt’s?“ Empört schnaufend trat der Bengel ins Dunkel zurück. Georgis Streichholz verlosch. Er nahm Olga bei der Hand und geleitete sie höflich zu ihrem Hause zurück. Die beiden Jungen, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben waren, zeigten sich wieder; der eine steckte seine verschmutzte Zigarette hinters Ohr und fragte seinen Freund im Tone tiefster Verachtung: „Woher kennt dich denn dieser großschnäuzige Kerl? Ist das ein Hiesiger?“ „Nicht direkt ein Hiesiger“, erwiderte Kwakin mißmutig. „Er ist der Onkel von Timka Garajew. Timka müssen wir schnappen und mal richtig durchhauen. Der arbeitet mit seiner Bande gegen uns. Ich glaube wenigstens, daß es so ist.“ Jetzt erst bemerkten die beiden Freunde am anderen Ende des Bahnsteigs einen würdigen, grauhaarigen Herrn, der im Schein einer Laterne, auf seinen Stock gestützt, die Treppe hinunterstieg. Sie erkannten den Doktor Kolokoltschikow, der in der Siedlung wohnte. Schnell rannten sie hinter ihm her und fragten sehr laut, ob er keine Zündhölzer bei sich habe. Doch ihre Stimmen und ihr Aussehen gefielen dem grauhaarigen Herrn ganz und gar nicht. Er musterte sie von oben bis unten, drohte ihnen mit seinem Stock und stelzte würdevoll davon. Shenja hatte keine Zeit mehr gefunden, das Telegramm an den Vater von der Post im Moskauer Bahnhof abzusenden. Daher beschloß sie, als sie, in der Siedlung angelangt, aus dem Vorortzug stieg, erst einmal das Postamt zu suchen, ehe sie zu Olga in die Datsche ging. Sie kam an dem alten Park vorbei und konnte hier der Versuchung nicht widerstehen, einen Strauß Glockenblumen zu pflücken. Als sie dann zwischen den Gärten zu einer Straßenkreuzung kam, merkte sie, daß sie an einer ganz anderen Stelle als beabsichtigt aus dem Park herausgekommen war. Das erste, was sie jetzt erblickte, war ein kleines Mädchen, das flink und geschickt eine störrische Ziege bei den Hornern gepackt hatte und sie fortzuzerren versuchte. Shenja lief auf sie zu und bat: „Ach, Kleine, sag mir doch, wie ich von hier zum Postamt komme.“ In diesem Augenblick riß sich die Ziege los, stieß mit den Hornern nach der Kleinen und rannte in großen Sprüngen durch den Park davon; das Kind lief schreiend hinterher. Shenja sah sich etwas ratlos um. Es dämmerte bereits. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Kurz entschlossen öffnete sie die Gartenpforte zu einem Pfad, der zu einem zweistöckigen Landhause führte, und ging auf das Haus zu. Sie klopfte, und als alles still blieb, fragte sie mit lauter, sehr höflicher Stimme: „Ach, entschuldigen Sie, wie komme ich von hier zum Postamt?“ Die Tür zu öffnen, wagte sie nicht. Es erfolgte keine Antwort. Eine Weile blieb Shenja stehen und überlegte. Dann griff sie doch kurz entschlossen nach der Klinke und öffnete die Haustür. Sie kam durch einen dunklen Gang. Die Tür zu einem der Zimmer war nur angelehnt. Shenja blickte hinein. Es war leer. Zögernd ging sie bis zur Mitte des Zimmers. Die Hausbewohner schienen ausgegangen zu sein. Unentschlossen und schuldbewußt, weil sie ein fremdes Haus so mir nichts, dir nichts betreten hatte, wandte Shenja sich um und wollte wieder hinausgehen. Doch da kam unter dem Tisch ein großer struppiger Hund hervorgekrochen. Er beäugte das verdutzte Mädchen aufmerksam und legte sich dann mit leisem Knurren quer vor die Zimmertür. „Du bist wohl dumm“, rief Shenja erschrocken, wobei sie die Hände abwehrend ausstreckte. „Ich bin kein Dieb. Ich habe nichts gestohlen. Da, da ist unser Wohnungsschlüssel. Da, da ist das Telegramm an Papa. Mein Papa ist Offizier, hast du mich verstanden, du dummer Köter?“ Doch der Hund rührte sich nicht von der Stelle. Er knurrte auch nicht mehr. Shenja näherte sich behutsam, auf Fußspitzen dem offenstehenden Fenster, dabei redete sie dem Hunde ununterbrochen weiter zu: „Na, siehst du, bleibst schön liegen … bleibe ganz ruhig liegen bist ein gutes Hundchen siehst so klug und gutmütig aus.“ Aber kaum hatte Shenja die Fensterbank erreicht und wollte sich gerade hinaufschwingen, als der „gutmütige“ Hund auch schon mit drohendem Knurren aufgesprungen war. Shenja erschrak sehr und war mit einem Satz auf dem Sofa, wo sie mit angezogenen Knien hockenblieb. „Wie komisch du bist, dummer Hund!“ Jetzt weinte sie beinahe. „Halte doch Räuber oder Spione fest, aber nicht so harmlose Leute wie mich. Hörst du!“ Voller Empörung streckte sie dem Hunde die Zunge heraus. „So ein dummes Vieh!“ Von den wachsamen Blicken des Hundes verfolgt, der sie nicht aus den Augen ließ, legte Shenja das Telegrammformular und die Schlüssel behutsam auf den äußersten Rand des Tisches und überlegte dann, was zu tun sei. Es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, bis die Hausbewohner heimkehrten. Doch es verging eine Stunde und noch eine zweite, und niemand kam … Es war jetzt ganz finster. Durch das offene Fenster hörte Shenja in der Ferne Lokomotiven pfeifen; Hunde bellten, und irgendwo spielte jemand auf einer Gitarre. Nur hier im Hause blieb es ganz still, wie ausgestorben. Shenja hatte den Kopf auf die harte Sofalehne gelegt und weinte leise vor sich hin. Schließlich wurde sie müde; es dauerte nicht lange, und sie war fest eingeschlafen. Draußen rauschte es in dem üppigen, vom Regen blank gewaschenen Laub. Irgendwo in der Nähe knarrte ein Brunnenrad. Jemand zersägte Holz. Doch hier im Zimmer war es immer noch ganz still. Nichts regte sich. Als Shenja erwachte, war es heller Tag. Sie richtete sich auf und rieb sich erstaunt die Augen. Langsam kamen ihr die Ereignisse des gestrigen Abends wieder in den Sinn. Unter ihrem Kopfe lag jetzt ein weiches Lederkissen, und eine Decke war über ihre Beine gebreitet worden. Der Hund war nirgends zu entdecken. Also mußte in der Nacht jemand dagewesen sein. Shenja sprang auf, schüttelte ihr Haar zurück, zupfte den zerknitterten Sarafan zurecht, nahm den Schlüssel und das immer noch nicht aufgegebene Telegramm vom Tisch und wollte hinausgehen. Da erst entdeckte sie auf dem Tisch einen großen Bogen Papier, auf dem mit Blaustift geschrieben stand: „Mädchen, wenn du fortgehst, so schlage die Tür fest hinter dir zu.“ Unterschrieben war der Zettel mit „Timur“. Timur? Wer war Timur? Wer konnte das nur sein? Wenn man diesem Timur doch nur danken könnte! Sie spähte ins Nebenzimmer. Da stand ein Schreibtisch mit einer Schreibgarnitur, einem Aschenbecher und einem Spiegel. Rechts auf dem Tisch lag, neben einem Paar Autohandschuhen, eine halb verrostete Pistole. An dem zerkratzten, schiefstehenden Tischbein lehnte ein krummer Türkensäbel. Shenja legte Schlüssel und Telegramm beiseite. Sie konnte der Versuchung, den Säbel in die Hand zu nehmen und ihn genauer zu betrachten und zu betasten, nicht widerstehen; sie zog ihn aus der Scheide und schwang die Klinge kühn über ihrem Kopfe, dabei betrachtete sie wohlgefällig ihr Spiegelbild. Es war ein bedrohlicher Anblick. So müßte sie sich fotografieren lassen und das Bild dann in der Schule herumzeigen. Den Schulkameradinnen könnte sie ja vorflunkern, ihr Vater hätte sie mit an die Front genommen. Da fiel ihr Blick auf die Pistole. Die gehörte in die linke Hand. So! Das war noch besser. Während sie befriedigt in den Spiegel blickte, runzelte sie die Brauen, preßte die Lippen fest aufeinander und sah unternehmend und kriegerisch aus. Lebhaft stellte sie sich einen Gegner vor. Ihre Phantasie spielte ihr wieder einmal einen Streich. Sie zielte in das Spiegelbild hinein, auf den vermeintlichen Gegner, und drückte kurz entschlossen auf den Abzug. Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den Raum. Alles war sofort in Rauch gehüllt, die Spiegelscherben fielen klirrend in den Aschenbecher, der dabei zu Schaden kam, und die zu Tode erschrockene, von dem Lärm halb betäubte Shenja ließ Schlüssel und Telegramm im Stich und floh, so rasch sie nur konnte, aus dem Zimmer und hinaus aus diesem Hause, das seltsame, geheimnisvolle Gefahren in sich barg. Auf irgendeine Weise gelangte sie bis zum Ufer des Flüßchens. Hier erst vermißte sie die Schlüssel zu der Moskauer Wohnung und das Telegrammformular. Was würde Olga sagen? Es blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu gestehen … Sie mußte Olga beichten, daß sie ein fremdes Haus betreten hatte, mußte ihr von dem Hund erzählen, von ihrem Übernachten dort, von dem Türkensäbel und schließlich auch von dem Schuß in den Spiegel. Das war schlimm! Wäre doch Papa nur dagewesen! Der hätte vielleicht Verständnis gehabt! Aber Olga? Olga würde sie bestimmt nicht verstehen. Olga würde sicher sehr böse werden. Vielleicht fing sie gar an zu weinen. Bei diesem Gedanken wurde Shenja recht kleinlaut. Das Weinen hätte sie jetzt auch allein besorgen können, so nahe saßen ihr die Tränen. Shenja war im Grunde ein weichherziges kleines Ding, und immer, wenn Olga ihretwegen zu weinen anfing, hätte sie sich am liebsten gleich in den entferntesten Winkel verkrochen. Um sich selber Mut zu machen, beschloß Shenja, erst einmal im Fluß zu baden. Es war warm genug, sie gewann Zeit und konnte ihre unangenehme Beichte aufschieben. Schließlich gab es aber keine Entschuldigung mehr, und sie machte sich kleinlaut und zögernd auf den Weg zur Datsche. Als sie die Sturen zur Veranda emporstieg, sah sie ihre Schwester in der Küche stehen. Olga bemühte sich gerade, den lange nicht gebrauchten Petroleumkocher in Brand zu setzen. Bei dem Geräusch, das Shenjas Schritte verursachten, fuhr Olga herum. Stumm und zornig blickte sie ihrer Schwester entgegen. „Ach, Oljuschka, schimpf bloß nicht“, bat Shenja flehend und blieb, mit dem Versuch, harmlos zu lächeln, auf der obersten Treppenstufe stehen. „Olga, du schimpfst nicht, gelt?“ „Doch, ich werde schimpfen“, sagte Olga entschlossen, ohne ihre offenbar schuldbewußte Schwester aus den Augen zu lassen. „Na, dann schimpfe nur“, erklärte die Kleine ergeben. „Besser wäre es, wenn du mir erst zuhören würdest. Ich habe ein ganz merkwürdiges Erlebnis gehabt, ein richtiges Abenteuer. Ach, liebe Oljuschka, ich bitte dich, zieh die Stirn nicht so kraus. Es ist wirklich gar nichts Schlimmes passiert, ich habe nur die Wohnungsschlüssel verloren, und das Telegramm an Papa ist auch noch nicht weg…“ Shenja war froh, daß es heraus war. Sie blinzelte verlegen und holte so tief Luft, als wolle sie alles, was sie auf dem Herzen hatte, auf einmal loswerden. Ehe sie jedoch weitersprechen konnte, wurde die Gartenpforte geräuschvoll aufgestoßen und eine struppige Ziege, das Fell voller Kletten, sprang, die Horner angriffslustig gesenkt, mit einem Satz herein und jagte dann dem rückwärtigen Teil des Gartens zu. Laut schreiend lief das barfüßige Mädchen, das Shenja bereits kannte, hinter der Ausreißerin her. Shenja machte sich diesen Zwischenfall zunutze; sie brach ihre Beichte ab und stürzte eilfertig der Ziege und dem Kinde nach. Olga rief sie zu, sie müsse die Ziege aus dem Garten vertreiben. Atemlos langte sie bei der Kleinen an, als diese die Ziege gerade eingeholt und bei den Hornern gepackt hatte. Das Kind klammerte sich an das störrische Tier und blickte Shenja erwartungsvoll entgegen: „Hast du nichts verloren?“ fragte es. „Etwas verloren? N-ei-n!“ Shenja hatte nicht sogleich begriffen. „Wirklich nicht?“ fragte das Kind und hielt ein Schlüsselbund hoch. „Und wem gehört das hier?“ Das waren ja die Schlüssel zu der Moskauer Wohnung! Kleinlaut gab Shenja zu: „Doch, die gehören mir.“ „Dann nimm sie“, sagte die Kleine, „und hier nimm auch den Zettel und die Quittung; das Telegramm ist abgegangen, soll ich dir sagen.“ Die Kleine stieß mit einem Seitenblick auf das Haus und Olga, die auf die Veranda getreten war, die Worte leise zwischen den Zähnen hervor. Sie steckte Shenja ein zerknülltes Papier in die Hand. Dann wandte sie sich mit erhobener Faust wieder der störrischen Ziege zu. Das Tier hatte sich von neuem losgerissen und jagte in der Richtung auf die Gartenpforte davon, die Kleine lief, ohne auf die Brennesseln zu achten, wie ein treuer Schatten hinterdrein. Gleich darauf waren beide durch die Tür und hinter der Hecke verschwunden. Beklommen, als habe sie und nicht die Ziege Prügel bekommen, entfaltete Shenja den zerknüllten Zettel. Es war die Quittung für das Telegramm. Also hatte es jemand aufgegeben. Ach, da war noch ein Zettel, auf dem stand mit Blaustift und in großen Buchstaben geschrieben: „Mädchen, du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist in Ordnung, und ich verrate niemand etwas.“ Und darunter wieder die Unterschrift: „Timur“. Wie verzaubert stand Shenja da. Mit einem Blick auf Olga steckte sie den Zettel hastig in die Tasche und kehrte dann, ohne sich zu beeilen, erhobenen Hauptes zu ihrer Schwester zurück. Als Olga sah, daß Shenja auf das Haus zukam, ging sie in die Küche und beschäftigte sich wieder angelegentlich mit dem Petroleumkocher, der immer noch nicht brennen wollte. Als Shenja möglichst unbefangen hereinschlenderte, sah sie, daß Olgas Augen voller Tränen standen. „Oh, Olga“, rief sie zerknirscht. „Ich habe doch eben nur Spaß gemacht. Weshalb bist du mir böse? Ich habe die ganze Wohnung schön aufgeräumt, habe die Fenster geputzt und habe mir so viel Mühe gegeben. Die Fußböden habe ich gescheuert und alle Lappen ausgewaschen. Ja“, sie verhaspelte sich beinahe vor Eifer und rief, einer plötzlichen Eingebung folgend: „Da, da hast du die Schlüssel und da, da ist die Quittung von Papas Telegramm. Ach, Olga, komm, laß dich abküssen! Du weißt doch, wie lieb ich dich habe. Wenn du willst, spring ich jetzt gleich vom Dach da runter in die Brennesseln, ja, soll ich?“ Und ohne Olgas Antwort abzuwarten, warf sich Shenja der Schwester an den Hals und umschlang sie stürmisch mit beiden Armen. „Gewiß, Shenja … aber … ich habe mir Sorgen gemacht“, war alles, was Olga, halb erstickt, herausbringen konnte. „Immer machst du so dumme Späße. Papa hat mir aufgetragen … Shenja, ich bitte dich, laß mich los, ich ersticke. Shenja, ich habe Petroleum an den Händen … Shenja, gieße lieber die Milch in den Topf und stell ihn auf den Kocher.“ Shenja hatte die Schwester endlich freigegeben. Während Olga zum Waschbecken ging, um sich das Petroleum von den Händen zu waschen, wiederholte Shenja, immer noch ein bißchen verlegen: „Du weißt doch, Oljuschka, ich mache so gerne Späße.“ Dann füllte sie den Milchtopf und stellte ihn mit einem energischen Ruck auf den Kocher, der nun endlich brannte, und tastete nach dem Zettel in ihrer Tasche. „Sag mal, Olga“, fragte sie ziemlich unvermittelt, „gibt es eigentlich einen Gott?“ „Nein“, brummte Olga ärgerlich und steckte den Kopf in die Waschschüssel. „Wen gibt es denn?“ „Ach, laß mich in Ruhe mit deinen Dummheiten“, antwortete Olga noch immer verdrießlich. „Es gibt nichts dergleichen.“ Shenja schwieg. Sie schien nachzudenken. Dann fragte sie plötzlich: „Olga, wer ist Timur?“ Die Schwester überlegte: „Das war… so ein… so ein Zar“, gab sie etwas unwillig zur Antwort, während sie sich die Hände und das Gesicht mit Seife einrieb, „so ein Böser, ein Krüppel, glaube ich… aus der Geschichte des Mittelalters.“ „Wenn es nun aber kein Zar, kein Böser und keiner aus dem Mittelalter sein kann, wer ist es dann?“ „Ach, ich weiß es nicht. Laß mich doch in Ruh! Was hast du denn plötzlich mit einem Timur?“ Shenja tat sehr geheimnisvoll. „Das ist ein Mensch“, sagte sie, „den man lieben und bewundern muß.“ „Was redest du da für Unfug?“ Erstaunt hob Olga ihr mit Seifenschaum bedecktes Gesicht. „Was faselst du da eigentlich? Denkst dir irgendwelche Dummheiten aus und störst mich beim Waschen. Warte nur, wenn Papa kommt, wird er dir die Flausen schon austreiben.“ „Ach, Papa!“ Shenja sah mit einem Male betrübt aus. Ganz pathetisch rief sie: „Wenn Papa kommt, dann doch nicht für lange. Und sicher wird er einen einsamen, schutzlosen Menschen dann nicht kränken.“ „Dieser schutzlose, einsame Mensch bist du wohl?“ fragte Olga spöttisch. Doch dann blickte sie die Schwester an und lächelte versöhnt. „Ach, Shenja, ich weiß oft nicht, was dir für wunderliche Einfälle kommen. Von wem hast du solche Anwandlungen nur geerbt?“ Shenja hielt den Kopf gesenkt. Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild in der vernickelten bauchigen Teekanne. Doch plötzlich richtete sie sich auf und erklärte mit dem Brustton der Überzeugung: „Von wem ich das habe? Von Papa natürlich. Von Papa ganz allein und von keinem andern auf der Welt.“ Doktor Kolokoltschikow, der wie ein würdiger alter Kavalier aussah, saß im Garten und reparierte seine Wanduhr. Vor ihm stand mit trauriger Miene sein Enkel Kolja. Zwar tat er so, als helfe er seinem Großvater bei der Arbeit. In Wirklichkeit aber hielt er bereits seit einer geschlagenen Stunde einen Schraubenzieher in der Hand und wartete darauf, daß der Großvater endlich seiner wertvollen Hilfe bedürfe. Die Uhrfeder, die an einer bestimmten Stelle befestigt werden mußte, war widerspenstig; aber zum Glück (oder Unglück, dachte Kolja) hatte der Großvater sehr viel Geduld. Das Warten wurde dem armen Kolja recht lang; es schien kein Ende zu nehmen. Das war wirklich ärgerlich, um so mehr, als über dem Nachbarzaun schon ein paarmal Sima Simakows Wuschelkopf aufgetaucht war. Kolja hielt Sima für einen klugen und wendigen Jungen. Und jetzt machte dieser Sima Simakow ständig Zeichen mit dem Kopfe und den Händen, die offenbar für Kolja bestimmt waren, dabei schnalzte er hörbar mit der Zunge. Diese Zeichen und das Zungenschnalzen waren so seltsam und so auffällig, daß sogar Koljas fünfjähriges Schwesterchen Tatjanka, das in der Nähe unter einem Lindenbaum saß und beharrlich versuchte, dem träge ausgestreckten Hunde eine Kette ins Maul zu stecken, darauf aufmerksam wurde. Es schrie plötzlich laut auf und zog den Großvater an den Hosenbeinen, worauf allerdings Sima Simakows Kopf blitzschnell verschwand. Der Großvater hatte nichts bemerkt. Es war ihm endlich gelungen, die Feder einzupassen. Mit einem Seufzer der Erleichterung trocknete sich der alte Herr die von der Anstrengung schweißnasse Stirn und erklärte, zu seinem Enkel gewandt, belehrend: „Der Mensch muß tätig sein, Kolja. Weshalb machst du ein so grämliches Gesicht, als hättest du ein Abführmittel genommen? Gib mir den Schraubenzieher und halte die Zange. Die Arbeit, mein Sohn“, fuhr der Großvater fort, „adelt den Menschen. Dir aber fehlt es an dem nötigen Eifer, und du bist auch nicht edelmütig. Gestern hast du zum Beispiel vier Portionen Eis gegessen und deiner kleinen Schwester nichts abgegeben.“ „Sie lügt, das freche Ding“, verwahrte sich der gekränkte Kolja empört. Er warf Tatjanka einen wütenden Blick zu. „Bei drei Portionen habe ich sie jedesmal zweimal lutschen lassen. Und dann wagt sie es noch, sich zu beschweren. Dabei habe i c h gesehen, wie sie von Mamas Tisch vier Kopeken gemaust hat“, schloß Kolja rachsüchtig. „Und du bist heute nacht an einem Strick aus dem Fenster geklettert“, zirpte Tatjanka unschuldig, ohne den Kopf zu wenden. „Du hast eine Laterne in deinem Bett versteckt“, fuhr sie fort. „Und ein Junge hat gestern von der Straße her Steine ins Fenster geworfen und nach dir gepfiffen.“ Kolja blieb vor Schrecken das Herz stillstehen. Während Tatjanka ihre freche Rede hielt, begann er am ganzen Leibe zu zittern. Nur gut, daß der in seine Arbeit vertiefte Großvater diese gefährlichen Anschuldigungen gar nicht zu hören schien. Zum Glück kam in diesem Augenblick auch die Milchfrau in den Garten und begann, während sie die Milch ausmaß, bewegt zu klagen: „Ach, Väterchen Fjodor Grigorjewitsch, denkt Euch nur, gestern nacht haben Diebe meinen Eichentrog im Hofe von der Stelle gerückt. Die Nachbarn erzählen sich, heute morgen hätten sie zwei Leute auf meinem Schornstein sitzen sehen. Sitzen ganz gemütlich da, die Schufte, und lassen die Beine herunterbaumeln.“ „Wie denn, erlauben Sie, Mütterchen, auf Ihrem Schornstein?“ fragte Doktor Kolokoltschikow erstaunt, „weshalb denn und zu welchem Zweck?“ Doch da klang vom Hühnerstall her Lärm. Irgend etwas dröhnte. Der würdige alte Herr erschrak so sehr, daß der Schraubenzieher in seiner Hand ausrutschte und die störrische Feder heraussprang; sie sauste mit einem pfeifenden Ton auf das Blechdach des nahen Schuppens. Alle Anwesenden, sogar Tatjanka und der schläfrige Hund waren erschrocken zusammengefahren. Sie begriffen weder, was das Dröhnen bedeutete, noch was überhaupt geschehen war. Sie sahen nur gerade noch, wie Kolja stumm die Zange auf den Boden warf und flink wie ein Hase über die Mohrrübenbeete hinweg und über den Zaun setzte. Im Nu war er verschwunden. Verdutzt sah der grauhaarige Doktor ihm nach. Atemlos war Kolja beim Kuhstall angelangt und dort stehengeblieben; von dort her, aber auch aus dem Hühnerstall kam das dröhnende Geräusch, das so klang, als schlage jemand mit etwas Schwerem gegen Metall. Nun tauchte auch Sima Simakow neben ihm auf; erregt begann Kolja ihn auszufragen. „Hörst du … Was ist das? Ich begreife das nicht … Soll das Großalarm sein?“ „Nein, das glaube ich nicht“, antwortete Sima, „höchstens Stufe eins – das allgemeine Sammeln!“ Die beiden Jungen setzten über eine Hecke und schlüpften dann durch das Loch im Parkzaun. Hier stießen sie auf ihren Kameraden Geika, einen kräftigen breitschultrigen Jungen. Wassili Ladygin folgte ihm auf dem Fuße. Lautlos und flink liefen die Jungen auf geheimnisvollen, nur ihnen bekannten Pfaden weiter, einem bestimmten Ziel entgegen. Dabei riefen sie einander im Laufen zu: „Großalarm?“ „Aber nein, das ist Stufe eins – allgemeines Sammeln.“ „Wie denn, das war doch nicht dreimal. Halt! Halt! Irgendein Idiot dreht da zehnmal an dem Rad.“ „Werden ja sehen, was es ist.“ „Ja, werden gleich sehen.“ „Also los, vorwärts!“ Und die geheimnisvolle wilde Jagd ging weiter. Etwa um dieselbe Zeit stand in dem Zimmer, in das Shenja eingedrungen war und in dem sie wider Willen übernachtet hatte, ein großer dunkelhaariger Junge. Er mochte etwa dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Seine Kleidung bestand aus einer leichten schwarzen Hose und einem blauen Sporthemd, auf das ein roter Stern genäht war. Ein Greis mit wirrem grauem Haar stand in drohender Haltung vor ihm. Zu dem ärmlichen Leinenhemd des Alten paßten seine ungewöhnlich weiten, stark geflickten Hosen. An seinem linken Knie war mit einem Riemen ein plumpes Holzbein befestigt. Der alte Mann hielt einen Zettel in der einen Hand, in der anderen hielt er die altmodische Pistole. Mit spöttischem Gesichtsausdruck las er gerade von dem Zettel ab: „Mädchen, wenn du fortgehst, schlage die Tür fest hinter dir zu.“ „Willst du mir vielleicht gütigerweise verraten“, fuhr er, zu dem Jungen gewandt, fort, „wer heute nacht bei uns auf dem Sofa geschlafen hat?“ Merkwürdigerweise klang die Stimme des Alten mit dem Stelzfuß ganz jung. „Ein kleines Mädchen, das ich kenne“, antwortete der Junge widerwillig. „Es ist hereingekommen, während ich weg war, und dann hat es der Hund nicht wieder hinausgelassen.“ „Ach, du lügst ja“, schrie der vermeintliche Alte wütend, „wenn dir das Mädchen bekannt wäre, hättest du es auf dem Zettel mit seinem Namen angeredet.“ „Als ich den Zettel schrieb, wußte ich den Namen noch nicht. Aber jetzt kenne ich das Mädchen.“ „Du wußtest seinen Namen nicht und hast das fremde Mädchen bis zum Morgen hier allein gelassen, hier in der Wohnung? Weißt du, mein Junge, du bist nicht normal, man sollte dich in ein Irrenhaus sperren. Ist dir denn klar, was geschehen ist? Dieses Ungetüm von einem Mädchen hat den Spiegel zerschlagen und den Aschenbecher kaputtgemacht. Ein Segen, daß die Pistole nur mit einer Platzpatrone geladen war. Was wäre geschehen, wenn es scharfe Munition gewesen wäre?“ „Aber Onkel“, der Junge bemühte sich, gleichmütig zu bleiben, „Sie haben doch gar keine scharfe Munition, und Ihre Feinde haben nur Flinten und Säbel – aus Holz!“ Der Onkel unterdrückte ein Lächeln. Doch er schüttelte streng seinen grauen Kopf und erwiderte: „Paß auf, Timur! Ich merke alles! Ich weiß, daß du dich mit geheimnisvollen Dingen beschäftigst. Sieh dich nur vor, daß ich dich nicht kurzerhand heim zu deiner Mutter expediere.“ Nach dieser Drohung drehte er sich um und kletterte mühselig die Stiege hinauf, wobei sein Holzbein bei jedem Schritt hart aufschlug. Als er nicht mehr zu sehen war, packte der Junge den Hund, der hereingelaufen war, bei den Vorderpfoten und gab ihm einen Kuß mitten auf die Schnauze. „Ach, Rita, der Onkel hat uns erwischt. Macht aber nichts, er ist heute ganz guter Laune. Paß auf, gleich fängt er an zu singen.“ Und tatsächlich war jetzt aus dem darüberliegenden Raum erst ein starkes Räuspern zu hören und dann ein paar Töne: Tra-la-la! Und schließlich begann eine jugendliche Bariton-Stimme zu singen: „Ich kann nicht schlafen, schon die dritte Nacht, Denn stets erscheint mir in der tiefen Stille, in finsterer Nacht das gleiche Bild…“ Timur lauschte, dabei spielte er gedankenlos mit dem Hund, der sich mit einemmal recht seltsam benahm. „Was willst du denn, närrisches Vieh?“ fragte der Junge. „Was zerrst du mich an den Hosenbeinen?“ Dann, durch das Benehmen des Hundes aufmerksam geworden, schlug Timur die Tür zu der nach oben führenden Treppe zu, durch die sein Onkel sich entfernt hatte, und lief über den Korridor, dem Hunde nach, auf die Veranda hinaus. Dort stand in einer Ecke ein Telefonapparat. Daneben hing ein Glöckchen aus Bronze; es hüpfte jetzt auf und nieder und schlug dabei klirrend gegen die Wand. Der Junge griff nach dem Glöckchen und wickelte die Schnur, an der es hing, um einen Nagel. Das Zittern der Schnur wurde schwächer. Vielleicht war die Verbindung irgendwo durchgerissen. Verwundert und etwas ärgerlich nahm Timur den Hörer ab. – Eine halbe Stunde bevor dies alles sich ereignete, hatte Olga in ihrem Zimmer am Tisch gesessen. Vor ihr lag aufgeschlagen ein Lehrbuch der Physik. Da war Shenja harmlos hereingeschlendert und hatte um das Fläschchen mit Jod gebeten. Olga hatte ärgerlich aufgeblickt. Sie stutzte und fragte: „Was hast du denn da für einen Kratzer an der Schulter?“ „Ach“, hatte Shenja mit gleichgültiger Stimme geantwortet, ich bin nur so gegangen … und da war ein stachliger Zweig im Weg, weißt du … und so ist es gekommen.“ „Warum kommen mir eigentlich keine stachligen Zweige in den Weg?“ hatte Olga spöttisch gefragt und dabei Shenjas Tonfall nachgemacht. „Stimmt ja gar nicht. Bei dir ist es anders. Dir kommt die Mathematikprüfung in den Weg. Die ist genauso stachlig“, hatte Shenja schlagfertig geantwortet, „wirst ja sehen, was du davon für Schrammen bekommst. Ach, Oljuschka, werde doch lieber nicht Ingenieur oder Doktor. Ein Ingenieur, weißt du, muß immer so aussehen.“ Und sie hatte eine greuliche Grimasse geschnitten, um sich ein gelehrtes, energisches Aussehen zu geben. „Du aber siehst so aus … so und so …“ Und Shenja hatte einen schwärmerischen Gesichtsausdruck angenommen und die Augen sentimental verdreht. „Du dummes Schaf!“ Wider Willen hatte Olga lachen müssen. Sie hatte Shenja umarmt und geküßt und sie sanft von sich geschoben und zu ihr gesagt: „Laufe lieber zum Brunnen und hole mir Wasser.“ Aber Shenja hatte die Aufforderung geflissentlich überhört. Im Vorbeigehen hatte sie vom Teller einen Apfel stibitzt, war dann zum Fenster getreten und hatte schließlich das Akkordeon geholt und es aus seiner Hülle genommen. „Weißt du, Oljuschka“, plauderte sie dabei, „was ich erlebt habe? Kommt da heute so ein Onkelchen zu mir heran. Ganz nett anzusehen, blond, trägt einen weißen Anzug und fragt mich ohne viel Umschweife: ‚Wie heißt du denn, Mädchen?’ Ich sage darauf: Shenja! Und er…“ „Shenja, störe mich nicht bei der Arbeit und laß das Instrument liegen“, hatte Olga kurz gesagt, ohne von ihrem Buch aufzusehen. Doch Shenja hatte unbeirrt weiter gesprochen: „Ja, und dann hat er gesagt: ,Deine Schwester heißt ja wohl Olga?“ „Shenja, störe mich nicht.“ Olga wurde ärgerlich. „Und bitte, laß das Akkordeon liegen.“ Dabei war sie aber merklich interessiert an dem, was Shenja zu erzählen hatte. „‚Sehr schön kann sie spielen, deine Schwester’, hat er noch gesagt, ‚will sie nicht Unterricht auf dem Konservatorium nehmen?’“ Shenja hatte indessen das Instrument aus seiner Hülle herausgenommen und den Riemen über die Schulter geworfen. Dann hatte sie weitergesprochen: „Nein, sage ich zu ihm, sie lernt etwas über Eisenbeton. Darauf sagte er – A-a-a!“ Zu diesem langgezogenen A hatte Shenja eine Taste heruntergedrückt. „Und ich sage darauf B-e-e.“ Hierbei hatte sie die nächste Taste berührt. Olga war wütend aufgesprungen. „Du unfolgsames Ding, gleich legst du das Instrument auf seinen Platz zurück. Wer hat dir denn erlaubt, mit fremden Männern Gespräche zu führen?“ „Ich lege es ja schon weg“, hatte Shenja gekränkt erwidert. „Ich habe das Gespräch mit dem netten jungen Mann gar nicht angefangen, das hat er getan. Ich wollte dir nur etwas Interessantes erzählen. Jetzt tue ich es nicht. Ätsch. Warte, wenn Papa kommt, dann kannst du was erleben.“ „Ich? Du wirst was erleben. Du störst mich beim Arbeiten.“ „Nein, du wirst was erleben“, hatte Shenja eigensinnig wiederholt, während sie nach einem leeren Eimer griff. „Ich werde Papa erzählen, wie du mich hundertmal am Tage herumjagst, mal nach Petroleum, mal nach Seife, mal nach Wasser! Ich bin nicht dein Botenjunge – ich bin auch kein Packesel und gar nichts.“ Dann hatte Shenja aber doch das Wasser geholt; sie schleppte den Eimer herein und stellte ihn geräuschvoll auf die Bank, da aber Olga keine Notiz von ihr nahm und gar nicht von den Büchern aufgeblickt hatte, drehte sich Shenja beleidigt um und lief in den Garten. Sie langweilte sich. Was konnte sie nur anfangen? Vor dem Schuppen angelangt, war Shenja stehengeblieben und hatte eine Schleuder aus der Tasche gezogen; an der Gummischnur war ein kleiner Fallschirmjäger aus Pappe befestigt. Shenja hatte die Schleuder abgeschnellt, und der Fallschirmjäger war, mit den Beinen nach oben, zum Himmel emporgeflogen. Er wirbelte in der Luft herum, ein blauer Papierschirm öffnete sich – doch da trieb ein Windstoß den kleinen Piloten zur Seite und in das schwarze Viereck des Schuppenfensters hinein. Ein Unfall! Dem Papp-Piloten mußte geholfen werden. Shenja ging um den Schuppen herum und betrachtete neugierig die Schnüre, die vom Dach aus nach allen Richtungen verliefen. Sie schleppte die morsche Leiter herbei, kletterte hinauf und in die Fensteröffnung hinein. Mit einem Satz sprang sie auf die Dielen des Dachbodens. Wie merkwürdig. Der Bodenraum schien bewohnt zu sein. Von der Wand hingen Stricke herab. Da hing eine Laterne, und da drüben waren zwei Signalfähnchen kreuzweise an den Latten angebracht. Dann gab es da noch eine Karte von der Siedlung, mit allen möglichen Zeichen bemalt, die Shenja unverständlich waren und ihre Neugierde weckten. In der Ecke lag ein mit Säcken bedeckter Strohhaufen. An der Wand, dicht unter dem schadhaften moosbewachsenen Dach, war ein Rad befestigt. Es sah beinahe aus wie das Steuerrad auf einem Schiff oder das Lenkrad eines Autos. Neben dem Rad war ein Telefonapparat angebracht, den sich jemand offenbar selbst konstruiert hatte. Durch einen Spalt des Daches spähte Shenja hinaus. Das Laub der Bäume rauschte leise wie Meereswogen. Tauben flogen umher. In ihrer lebhaften Phantasie hatte sich Shenja schnell ein Bild vorgestellt: Die Tauben waren natürlich Möwen; mit all den Schnüren, Landkarten, Laternen und Fähnchen war der Dachboden ein großes Schiff. Und sie war selbstverständlich der Kapitän. Das war lustig. Sie drehte an dem Steuerrad. Die gespannten Schnüre zitterten und summten. Heftiger Sturm peitschte die Wogen. Während sie das Steuerrad bediente, spürte Shenja förmlich, wie ihr erträumtes Schiff auf den Wellen schaukelte. „Nach Steuerbord“, kommandierte der eifrige Kapitän laut und drehte mit aller Kraft das schwere Steuerrad. Die Sonnenstrahlen, die schräg durch die Ritzen im Dach hereindrangen, fielen auf Shenjas Gesicht und ihren roten Sarafan. Für den Kapitän waren das natürlich Scheinwerfer der feindlichen Flotte, die nach ihrem Schiff tasteten. Der tapfere Kapitän war entschlossen, den Kampf mit dem Gegner aufzunehmen. Mit ihren kräftigen kleinen Händen regierte Shenja das knarrende Steuerrad, manövrierte ihr Schiff nach links und gab der unsichtbaren Besatzung mit schmetternder Stimme ihre Befehle. Die Sonnenstrahlen verblaßten. Doch für Kapitän Shenja hing das keineswegs mit dem Verschwinden der Sonne hinter den Wolken zusammen. O nein. Das feindliche Geschwader versank, von ihren Schiffsgeschützen getroffen, in den Fluten. Die Seeschlacht war siegreich beendet, und Kapitän Shenja wischte sich mit der staubigen Hand den Schweiß von der Stirn. Da klingelte plötzlich das Telefon an der Wand. Das hatte Shenja nicht erwartet. Sie hatte diesen Apparat für ein Spielzeug gehalten. Es wurde ihr ganz unheimlich. Mit einem Ruck kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und nahm kurz entschlossen den Hörer ab. Eine helle scharfe Stimme fragte: „Hallo, hallo, so antworten Sie doch. Was für ein Esel reißt die Drähte entzwei und gibt falsche und unverständliche Signale?“ „Hier ist kein Esel“, antwortete Shenja verstört, „hier bin ich, Shenja.“ „Närrisches Mädchen“, schrie die helle Stimme erschrocken und empört. „Laß das Rad in Ruhe und mach, daß du verschwindest. Gleich werden sie angelaufen kommen… und werden dich verprügeln.“ Sehr erschrocken ließ Shenja den Hörer fallen. Doch es war schon zu spät. Im hellen Fensterrahmen tauchte Geikas und gleich hinter ihm Sima Simakows Kopf auf. Dann kam Kolja Kolokoltschikow, und hinter ihm kletterten noch mehr Jungen herein. „Wer seid ihr denn?“ fragte Shenja verstört. Sie trat ein paar Schritte zurück. „Macht, daß ihr fortkommt. Das hier ist unser Garten. Ich habe euch nicht gerufen.“ Stumm, Schulter an Schulter gedrängt, kamen die Jungen näher. Shenja wich zurück. Empört schrie sie auf. In diesem Augenblick erschien im Fensterrahmen noch ein Junge. Die andern hatten sich umgedreht und fuhren erschrocken auseinander. Auf dem blauen Sporthemd des großen dunkelhaarigen Jungen war ein roter Stern aufgenäht. Der Junge war hereingeklettert, hatte die anderen energisch beiseite geschoben und stand jetzt vor Shenja, die immer noch schrie. „Sei still“, herrschte er sie an. „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Und dann freundlicher: „Wir kennen uns doch. Niemand hier darf dich anrühren. Ich bin Timur.“ „Du bist Timur?“ Shenja war sehr mißtrauisch. Die weit aufgerissenen Augen voller Tränen, stand sie vor ihm. „Warst du es, der mich gestern nacht zugedeckt hat? Hast du das Telegramm für Papa an die Front aufgegeben? Hast du mir den Schlüssel und die Quittung geschickt? Weshalb hast du das alles getan? Woher kennst du mich?“ Timur war dicht an sie herangetreten und hatte sie behutsam bei der Hand genommen. Er sah sich nach den Kameraden um. Dann antwortete er: „Setze dich, Shenja, und höre zu. Gleich wirst du alles begreifen.“ Die Jungen hatten sich in einem Kreise um Timur auf dem mit Säcken bedeckten Strohhaufen niedergelassen. Timur hatte die Karte von der Siedlung mit den seltsamen Zeichen von der Wand genommen und sie vor sich ausgebreitet. Vor der Öffnung des Fensters hatte ein Beobachter in einer Schaukel Platz genommen. An einer Schnur um seinen Hals hing ein verbeultes Opernglas. Shenja, die ihren Schrecken überwunden hatte, hockte sich neben Timur nieder. Mit neugierigen Blicken verfolgte sie alles, was auf der Versammlung dieses geheimnisvollen Trupps vor sich ging. Timur ergriff das Wort. „Also hört. Morgen früh, wenn die Leute noch schlafen, werden Kolokoltschikow und ich zuerst einmal die von Shenja abgerissenen Drähte wieder zusammenknüpfen.“ „Ach, Kolja wird es bestimmt verschlafen“, behauptete Geika, der Junge im Matrosenhemd mit dem auffallend großen Kopf. „Der wacht nur zum Frühstück und zum Mittagessen auf.“ „Das ist eine gemeine Verleumdung“, verteidigte sich Kolja und stotterte dabei vor lauter Aufregung. „Beim ersten Sonnenstrahl stehe ich auf.“ „Ich weiß nicht, was du unter dem ersten Sonnenstrahl verstehst“, beharrte Geika, „aber verschlafen wirst du es auf jeden Fall.“ Da stieß der Junge in der Schaukel plötzlich einen grellen Pfiff aus. Die umherhockenden Kinder sprangen auf. In eine Staubwolke gehüllt, raste eine Artillerieabteilung durch den Ort. Die mächtigen Gäule, waren mit Eisenplatten geschützt. Das Lederzeug glänzte. Im raschen Trab zogen sie die schweren, mit grünem Anstrich getarnten und mit Segeltuch verhüllten Geschütze die Straße entlang. Wie angegossen saßen die wetterharten, braungebrannten Reiter in ihren Sätteln. Und im Nu war eine Batterie nach der anderen im nahen Wäldchen verschwunden. „Die wollen zum Bahnhof. Da werden sie verladen“, erklärte Kolja Kolokoltschikow wichtigtuerisch. „Ich kann das an ihrer Uniform sehen. Ich kann unterscheiden, ob sie zu einer Übung ausrücken oder zu einer Parade oder ob sie sonstwohin reiten.“ „Renommiere doch nicht so und halte den Mund“, schrie sein Widersacher Geika erbost. „Wir haben selber Augen im Kopf. Wißt ihr schon, Jungens, dieser Schwätzer will zur Roten Armee durchbrennen?“ „Das ist verboten“, mischte sich Timur in den Streit. „Ein solcher Versuch wäre völlig sinnlos.“ „Verboten hin, verboten her“, schrie Kolja, ganz rot im Gesicht. „Weshalb sind denn die Jungens früher immer zur Front ausgerückt?“ „Ach, das war früher. Jetzt haben alle Kommandeure und Befehlsinhaber den strengen Auftrag, solche Jungens wie uns sofort wieder heimzuschicken.“ – „Was heißt hier heimschicken?“ Koljas Stimme überschlug sich vor Empörung. Er wurde noch röter und brüllte ganz laut: „Solche Jungens wie uns – ihre eigenen Jungens?“ „Ja, Kolja, es ist nun einmal so.“ Timur seufzte. „Ihre eigenen Jungens! Aber jetzt zur Sache, Kameraden.“ Alle kehrten zu ihren Plätzen zurück. „Hört zu, Jungens, im Garten des Hauses Kriwajagasse Nummer vierunddreißig haben unbekannte Jungens einen Apfelbaum geplündert“, berichtete Kolja Kolokoltschikow nun mit allen Zeichen der Entrüstung. „Sie haben die Äste abgeknickt und die Beete zertrampelt.“ „Um wessen Haus handelt es sich?“ wollte Timur wissen; er blickte in ein Wachstuchheft, das er zur Hand genommen hatte. „Um das Haus des Rotarmisten Krjukow“, wurde geantwortet. „Wo ist unser Spezialist für das Eindringen in fremde Gärten und das Äpfelstehlen?“ „Hier“, meldete sich eine schüchterne Stimme. „Na also, wer könnte das getan haben?“ „Na, sicher Mischka Kwakin und seine Spießgesellen, der mit dem Spitznamen ‚die Latte’ immer vorneweg. Der Apfelbaum gehört zu der Sorte, die ‚Goldsaft’ genannt wird. Natürlich haben sie sich so einen ausgesucht.“ „Immer wieder dieser Lümmel, der Kwakin.“ Timur schien etwas zu überlegen. „Geika, hast du eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt?“ „Ja.“ „Na und?“ „Ich habe ihm zweimal eine runtergehauen.“ „Und er?“ „Er hat mir auch zweimal eine runtergehauen.“ „Ach was, müßt ihr euch immer gleich prügeln? Das hat doch gar keinen Sinn. Mit dem Kwakin werden wir uns eingehender befassen. Also weiter. Was ist noch zu besprechen?“ „Aus dem Hause Nummer fünfundzwanzig ist der Sohn der alten Milchfrau zur Kavallerie eingezogen worden“, verkündete jemand aus einer Ecke. „Na, hör mal“, Timur schüttelte mißbilligend den Kopf. „Unser Zeichen ist doch vor drei Tagen an dem Tor angebracht worden. Wer hat das gemacht? Du, Kolokoltschikow?“ „Ja, ich war es.“ „Weshalb sieht die linke Ecke des Sterns aus wie ein verunglückter Blutegel? Wenn du schon so etwas machst, dann bitte ordentlich. Über deinen Stern werden die Leute lachen. Was gibt es noch?“ Der nächste, der aufsprang, war Sima Simakow; er berichtete zungenfertig und ohne Atem zu holen: „Aus dem Hause der Puschkarewastraße Nummer vierundfünfzig ist eine Ziege verschwunden. Wie ich so vorbeikomme, sehe ich gerade, wie die Alte ihre Enkelin schlägt. Ich schreie: Tantchen, das darfst du nicht, das ist gegen die Gesetze. Da sagt sie: „‚Die Ziege ist weg.’ Und dann noch: ‚Das verfluchte Mädel ist schuld daran.’ Wohin ist diese Ziege denn gelaufen? frage ich. ‚Zum Abhang da drüben, hinter das Wäldchen. Eben hat sie noch an der Baumrinde geknabbert, und auf einmal war sie weg, als hätte sie der Wolf gefressen.’“ „Warte mal, wohin gehört die Kleine?“ „In das Haus des Rotarmisten Pawel Gurjew. Das Mädchen ist seine Tochter. Es heißt Njurka. Jedenfalls hat die Großmutter es geschlagen, aber wie die heißt, weiß ich nicht. Die Ziege ist schwarz und hat einen grauen Rücken. Sie wird Manka gerufen.“ „Diese Ziege muß gefunden werden“, entschied Timur. „Vier von euch übernehmen das, du… du, du und du! Ist das alles, Kameraden?“ „Nein“, berichtete Geika etwas unsicher. „Ich habe gehört, wie in der Nummer fünfundzwanzig ein kleines Mädchen geweint hat.“ „Weshalb hat es denn geweint?“ „Ich habe es gefragt – es hat mir aber keine Antwort gegeben.“ – „Wie alt war denn das kleine Mädchen?“ „Na, vielleicht vier Jahre.“ „So ein Pech. Wenn es schon ein richtiger Mensch gewesen wäre… aber so… erst vier Jahre alt? Wessen Haus ist das denn?“ „Das Haus gehört Leutnant Pawlow, dem, der vor kurzem an der Grenze gefallen ist.“ „Hast es gefragt – und es hat nicht geantwortet?“ wiederholte Timur offenbar unzufrieden. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er schien zu überlegen. „Na gut – um diese Sache werde ich mich selber kümmern. Da laßt ihr die Finger davon…“ In eine Pause hinein meldete der Beobachter: „Eben ist Mischka Kwakin drüben an der Ecke aufgetaucht. Er geht die gegenüberliegende Straßenseite entlang und kaut an einem Apfel. Timur, wir sollten einen Trupp ausschicken und ihn verprügeln.“ „Kommt nicht in Frage. Alle auf den Plätzen bleiben. Ich bin gleich zurück.“ Ohne ein Wort der Erklärung, kletterte Timur aus dem Fenster und die Leiter hinunter. Er verschwand im Gebüsch. Wieder meldete der Beobachter: „Ich sehe an der Gartenpforte ein Fräulein stehen. Es ist ein hübsches Fräulein, hat einen Krug in der Hand und kauft Milch. Wahrscheinlich ist es die Besitzerin dieses Grundstücks.“ „Ist das deine Schwester, Shenja?“ fragte Kolja Kolokoltschikow und zupfte das Mädchen am Ärmel. Als Shenja nicht antwortete, rief Kolja drohend mit wichtiger Miene: „Sieh dich vor. Laß es dir ja nicht einfallen, sie von hier aus zu rufen.“ „Du kannst ruhig sitzen bleiben“, gab Shenja schnippisch zur Antwort und befreite sich dabei von seinem Griff. „Du bist mir ja ein schöner Kamerad!“ „Laß dich nicht mit ihr ein“, spottete Geika, „sie könnte dich sonst noch verprügeln.“ „Mich?“ Kolja war tief beleidigt. „Womit denn? Mit ihren Krallen? Ich habe Muskeln, und was für welche, da, fühlt mal… an meinen Armen… und hier, an meinen Beinen.“ „Sie wird dich mitsamt deinen Armen und Beinen unterkriegen“, hänselte Geika weiter. Doch dann stockte er und flüsterte aufgeregt: „Gebt acht, Jungens, Timur hat Kwakin beinahe erreicht.“ Als Kwakin den herankommenden Jungen bemerkte, blieb er stehen. Sein breites Gesicht verriet weder Staunen noch Schrecken. „Ich begrüße dich, Kommissar“, sagte er leise. Er hielt den Kopf schief. „Wohin so eilig?“ fragte er. „Dir entgegen“, antwortete Timur. „Ich begrüße dich, Ataman“, rief er, auf Kwakins Ton eingehend. „Hocherfreut über den Gast. Nur fehlt die Bewirtung. Höchstens so etwas!“ und Kwakin holte aus seiner Jacke einen Apfel vor und hielt ihn Timur hin. „Von eben diesen“, erklärte Kwakin, „von der Sorte ‚Goldsaft’. Nur schade, sie sind noch nicht reif.“ „Hast du sie gestohlen?“ fragte Timur gleichmütig und biß in die Frucht. „Zu sauer“, bemerkte er und warf den angebissenen Apfel weg. „Höre mal, hast du eigentlich dieses Zeichen an dem Hause Nummer vierunddreißig nicht gesehen?“ Und Timur wies auf den Stern an seinem Turnhemd. „Natürlich habe ich es gesehen“, antwortete Kwakin und horchte auf. „Mir entgeht nichts, weder am Tage noch in der Nacht, mein Lieber.“ „Solltest du also in Zukunft am Tage oder in der Nacht ein solches Zeichen erblicken, dann rate ich dir, trolle dich, als hätte dich einer mit kochendem Wasser übergossen“, erklärte Timur mit drohender Stimme. „Ach, Kommissar! Wie hitzig du bist!“ sagte Kwakin, die Worte dehnend. „Doch nun genug geschwätzt!“ „Ach, Ataman, wie störrisch du bist“, antwortete Timur, ohne die Stimme zu erheben. „Nun merke dir und sage es auch deinen Spießgesellen: Heute ist es das letzte Mal, daß ich mit dir s p r e c h e .“ – Ein zufälliger Beobachter hätte nicht vermuten können, daß sich hier zwei erbitterte Feinde gegenüberstanden. Das ganze erweckte den Anschein eines freundschaftlichen Gesprächs. Daher erkundigte sich Olga, die einen Krug in der Hand hielt, auch völlig harmlos bei der Milchfrau, wer eigentlich der große Junge sei, der sich mit dem Straßenbengel Kwakin unterhalte. „Weiß ich nicht“, gab die Milchfrau bissig zurück. „Wahrscheinlich ebenso ein Straßenbengel und Strolch. Der treibt sich doch ständig in der Nähe eures Hauses herum. Gib auf dein Schwesterchen acht, meine Liebe, daß sie dir die nicht verbleuen.“ Eine unerklärliche Sorge ergriff Olga. Sie warf den beiden Jungen einen mißtrauischen Blick zu, dann stellte sie den Krug beiseite, verschloß die Gartentür und ging über die Straße. Sie wollte nach Shenja Ausschau halten, die sich schon seit zwei Stunden nicht mehr hatte blicken lassen. Ungeduldig erwarteten die auf dem Dachboden hockenden Kinder Timurs Rückkehr. Als er endlich kam, mußte er ihnen haargenau erzählen, was sich zugetragen hatte. Dann wurde lange und erregt beraten, und schließlich einigten sich die Jungen, Kwakins Bande am nächsten Tage feierlich ein Ultimatum zu überreichen. Nachdem das erledigt war, löste Timur die Versammlung auf, und die Jungen krochen, einer hinter dem anderen, möglichst lautlos aus dem Dachfenster und die Leiter hinab. Dann schlichen sie behutsam auf allerlei Umwegen nach Hause; vielfach mußte über Zäune geklettert werden. Nur Timur und Shenja blieben zurück. „Nun?“ fragte Timur und trat dichter an Shenja heran. „Ist dir jetzt alles klar?“ „So ziemlich“, antwortete Shenja, „aber ganz noch nicht. Du mußt mir noch verschiedenes erklären.“ „Das will ich gerne tun, aber erst wollen wir hinunterklettern; komm mit mir nach Hause, Shenja. Deine Schwester habe ich eben weggehen sehen. Sie ist bestimmt noch nicht zurück.“ Einträchtig kletterten sie die Leiter hinab, die Timur dann vorsorglich umwarf und gegen die Mauer legte. Es war schon dunkel geworden. Aber Shenja folgte ihm vertrauensvoll. Bei dem Häuschen, in dem die alte Milchfrau wohnte, blieb Timur stehen; er sicherte nach allen Seiten. Kein Mensch war in der Nähe. Nun holte er eine Tube mit Ölfarbe aus der Tasche und trat dicht an das Tor heran, auf dem ein roter Stern aufgemalt war. Die Spitze an der linken Seite hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem verunglückten Blutegel. Timur verbesserte die Zeichnung flink und geschickt. Er hatte offenbar Übung darin. „Wozu dient denn das?“ fragte Shenja neugierig. „Erkläre mir doch, was das alles zu bedeuten hat.“ Timur war mit seiner Arbeit fertig; er riß ein paar Blätter von den Büschen ab und wischte damit die Farbenspritzer von seinen Fingern. Dann blickte er Shenja forschend an und begann: „Dieses Zeichen bedeutet, daß hier aus dem Hause jemand zur Roten Armee eingerückt ist. Solche Häuser stehen unter unserem Schutz. Die Jungen aus meinem Trupp müssen helfen, wo sie können. Die Bewohner dieser Häuser werden von uns betreut. Dein Vater ist doch auch bei der Armee?“ fragte er unvermittelt. Seine geheimnisvolle Art versetzte Shenja in Erregung: „Ja, natürlich“, antwortete sie. „Er ist Offizier“, fügte sie voller Stolz hinzu. „Dann steht euer Haus auch unter unserem Schutz. Du und deine Schwester, ihr werdet von uns bewacht“, erklärte Timur ernst. Shenja war tief beeindruckt. Sie waren weitergegangen und blieben vor einem der nächsten Häuser stehen. Auch hier war auf dem Lattenzaun ein Stern aufgemalt. Aber er sah anders aus. Ein Rand aus schwarzer Farbe umgab ihn. „Was bedeutet dieser Stern?“ wollte Shenja wissen. „Auch aus diesem Hause wurde jemand eingezogen; er lebt aber nicht mehr. Das Landhaus gehörte Leutnant Pawlow, der vor kurzem an der Grenze gefallen ist. Seine Frau und sein Töchterchen wohnen hier. Es ist das kleine Mädchen, von dem Geika nicht herausbringen konnte, weshalb es weinte. Vielleicht kannst du dich um das Kind kümmern, Shenja?“ Timur berichtete dies alles ganz selbstverständlich. Obgleich es ein warmer Abend war, erschauerte Shenja; sie empfand nicht einmal, daß die Luft etwas schwül war. Sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Nach einer längeren Pause fragte sie: „Ist dieser Geika eigentlich ein guter Junge?“ „Das ist er schon“, antwortete Timur. „Er ist der Sohn eines Seemannes. Sein Vater ist Matrose. Wenn er den kleinen Kolokoltschikow auch oft hänselt, weil der solch ein Prahlhans ist, so hilft er ihm doch aus der Patsche, wo er nur kann.“ In diesem Augenblick hörten sie, wie ganz in der Nähe mit strenger zorniger Stimme nach Shenja gerufen wurde. Sie fuhren herum, Olga stand dicht hinter ihnen. Gerade als Shenja Timur bei der Hand nehmen und ihn zu Olga führen wollte, wiederholte sie mit schneidender Stimme: „Jewgenja, du kommst augenblicklich hierher.“ Shenja zuckte ratlos die Achseln, nickte Timur hastig zu und rannte davon. Heftig atmend blieb sie vor Olga stehen. „Jewgenja“, wiederholte Olga streng, „ich verbiete dir ein für allemal, dich mit diesem Bengel abzugeben. Hast du mich verstanden?“ Shenja blickte ihre Schwester verstört an. „Aber Olga“, murmelte sie, „was hast du denn nur?“ „Du hörst es ja. Ich verbiete dir, dich mit diesem Bengel sehen zu lassen“, sagte Olga in entschiedenem Ton. „Du bist dreizehn und ich bin achtzehn Jahre alt. Vergiß das nicht. Ich bin die ältere, und du hast mir zu gehorchen, das hat Papa, als er fortging, ausdrücklich befohlen. Hörst du?“ „Aber Olga“, versuchte Shenja sich noch einmal zu verteidigen. „So begreife doch… laß dir erklären…“ Shenja sah ganz verzweifelt aus. Sie zitterte, und ihre Augen standen voller Tränen. Wenn Olga sie doch nur anhören wollte. Sie würde ihr alles sagen, alles erklären… Doch dann überlegte sie. Sie konnte das ja gar nicht sagen, denn sie hatte kein Recht, das Geheimnis anderer preiszugeben. Mit einer ergebenen Handbewegung verstummte sie und beschloß, kein Wort mehr zu ihrer Entschuldigung vorzubringen. Die Empörung über Olgas ungerechte Behandlung zitterte noch in ihr nach, während sie sich auskleidete und zu Bett ging. Sie konnte lange nicht einschlafen. Die aufregenden Erlebnisse des Tages hielten sie wach. Als sie endlich doch eingeschlummert war, hörte sie in ihrem gesunden festen Kinderschlaf gar nicht mehr, wie an das Fenster geklopft und ein Telegramm vom Vater hereingereicht wurde. Der Morgen dämmerte. Als die alte Milchfrau das Horn des Hirten hörte, öffnete sie die Gittertür, um ihre Kuh ins Freie zu treiben, damit sie sich der Herde anschließen sollte. Kaum war sie um die Straßenecke verschwunden, als fünf Jungen, die sich hinter einer Akazie versteckt hatten, vorsprangen und zum Brunnen liefen, sie gaben sich dabei die größte Mühe, nicht mit den Wassereimern zu klappern. „Na los, zieh“, wurde geflüstert. „Hier, nimm den Eimer, ein bißchen dalli.“ Die Jungen hasteten mit den schweren Wassereimern über den Hof und kippten den Inhalt in den Eichentrog; das Wasser spritzte gegen ihre nackten Beine. Sie achteten nicht darauf und liefen, ohne sich aufzuhalten, zum Brunnen zurück. Jetzt kam Timur in den Hof. Er trat zu Sima Simakow, der unermüdlich das Brunnenrad drehte. Hastig fragte ihn Timur: „Hast du Kolokoltschikow nicht gesehen?“ Als Sima verneinte, erklärte Timur ärgerlich: „Er hat es also doch verschlafen. Die Alte wird gleich zurückkommen.“ Mit eiligen Schritten entfernte er sich. Als er in den Garten kam, in dem Doktor Kolokoltschikows Häuschen stand, blieb er unter einem Baum stehen und stieß einen Pfiff aus. Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte er auf den Baum und spähte in das Zimmer, in dem Kolja schlafen mußte. Von hier oben konnte er nur die Hälfte des am Fenster stehenden Bettes sehen. Doch das genügte ihm, denn er hatte die in eine Decke gewickelten Beine erspäht. Er warf zuerst ein Stück Baumrinde durchs Fenster und rief dabei leise: „Kolja, Kolja, du mußt aufstehen.“ DerSchlafende rührte sich nicht. Etwas ratlos blickte sich Timur um. Er durfte keinen Lärm machen. Wie aber sollte er Kolja wach kriegen? Da kam ihm ein Einfall. Er holte sein Taschenmesser hervor, schnitt einen längeren Ast vom Baume und schnitzte ihn so zurecht, daß die eine Spitze einen Haken bildete. Nun rutschte er auf dem Ast näher zum Fenster heran und angelte mit dem Stock in der Richtung auf das Bett ins Zimmer hinein, bis er mit dem Haken an der Spitze des Astes die Bettdecke zu fassen bekam und sie behutsam zu sich heranzog. Die Decke war leicht und glitt über das Fensterbrett. Drinnen schrie jemand erstaunt auf. Ein empörter alter Herr im Nachtgewand sprang aus dem Bett und war mit einem Satz am Fenster. Er erwischte gerade noch einen Zipfel der davongleitenden Bettdecke. Als Timur den ehrwürdigen alten Mann erblickte, rutschte er hastig von dem Baum herab. Der empörte alte Herr warf die gerettete Decke auf das Bett und riß eine Jagdflinte von der Wand. Dann griff er nach seiner Brille, stülpte sie auf die Nase und kehrte, die Flinte im Anschlag, zum Fenster zurück. Den Lauf gen Himmel gerichtet, schoß er blindlings in die Luft. Timur hatte schon beim Anblick der umständlichen Vorbereitungen die Flucht ergriffen. Erst beim Brunnen blieb er atemlos stehen. Zunächst versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Was war geschehen? Hier lag offenbar ein Irrtum vor. Er hatte den schlafenden Doktor Kolokoltschikow mit Kolja verwechselt, und der alte Doktor wiederum hatte ihn für einen Einbrecher gehalten. Während er noch über seinen verhängnisvollen Irrtum nachsann, sah Timur die Milchfrau herankommen; sie ging mit zwei Eimern an einem Tragjoch zum Brunnen, um Wasser zu holen. Schnell verbarg sich Timur hinter dem Stamm einer Akazie und beobachtete, was nun geschehen würde. Die Alte ging zum Brunnen, pumpte die Eimer voll Wasser und begab sich keuchend zu dem Eichentrog. Sie setzte ihre Last nieder, hob den einen Eimer auf und kippte seinen Inhalt in den Trog, sprang aber erschrocken zurück, weil das Wasser platschend aus dem übervollen Trog herausschwappte. Sie stieß einen Ruf des Erstaunens aus und ging zögernd um den Trog herum, dabei blickte sie sich suchend nach allen Seiten um. Schließlich tauchte sie die eine Hand ins Wasser, hielt sie an die Nase und roch umständlich daran, dann lief sie, so schnell ihre alten Füße sie tragen wollten, bis zur Pforte, um nachzusehen, ob das Schloß etwa beschädigt sei. Kopfschüttelnd blieb sie stehen. Sie wußte nicht, was sie denken sollte. Nach kurzem Überlegen faßte sie einen Entschluß und schlurfte zum Nachbarhaus. Energisch klopfte sie an eins der Fenster. Timur lachte in sich hinein. Vorsichtig kam er aus seinem Versteck heraus. Jetzt hieß es, sich beeilen, denn schon ging die Sonne auf. Kolja hatte sich nicht blicken lassen, und die Drähte über dem Dachboden waren noch nicht in Ordnung gebracht. Noch immer nach allen Seiten Umschau haltend, schlich sich Timur bis zu dem Schuppen. Doch dann beschloß er, zuerst nach dem Landhaus zu gehen, um zu sehen, was Shenja machte. Er spähte in das geöffnete Fenster, das zum Garten hinaus lag. Shenja saß, nur mit einer Turnbluse und Turnhosen bekleidet, neben ihrem Bett und schrieb. Dabei strich sie sich von Zeit zu Zeit ungeduldig das Haar aus der Stirn. Als sie aufsah und Timur erblickte, erschrak sie nicht einmal. Sie legte nur warnend den Finger auf die Lippen, verbarg den angefangenen Brief in der Schublade, stand auf und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Timur erwartete sie. Nachdem er Shenja rasch von seinem Mißgeschick mit Kolja berichtet hatte, war sie sofort bereit, Olgas Verbot zu mißachten und ihm bei der Reparatur der Drähte, die sie ja selber zerstört hatte, behilflich zu sein. Nachdem sie diese Sache gemeinsam erledigt hatten und Timur bereits über den Zaun geklettert war, hielt Shenja ihn zurück. „Ach Timur“, sagte sie, „ich weiß gar nicht, weshalb Olga so böse auf dich ist.“ Timur meinte niedergeschlagen: „Und denke nur, mit meinem Onkel ist es das gleiche.“ Er wollte sich entfernen, aber Shenja hielt ihn am Ärmel fest. „Warte noch, Timur. Du siehst ganz struppig aus, hier, kämme dich erst einmal“, sagte sie fürsorglich. Sie hatte aus ihrer Tasche ein Kämmchen vorgekramt und reichte es dem Jungen. In diesem Augenblick ertönte aus dem Fenster hinter ihnen Olgas zornige Stimme: „Shenja, was machst du da?“ Schuldbewußt wandte sich Shenja um; sie gab Timur noch durch ein Zeichen zu verstehen, er solle sich entfernen. Dann trat sie zögernd zu Olga, die sie mit ärgerlichem Gesicht auf der Veranda erwartete. Geduldig hörte sich Shenja Olgas Vorwürfe an, ging dann aber energisch zum Gegenangriff über. „Was willst du eigentlich, Olga, ich kümmere mich ja auch nicht um deine Bekannten.“ Als Olga fragend die Augenbrauen hochzog, meinte sie: „Du willst wissen, welche? Das weißt du doch ganz genau. Um junge Männer in weißen Anzügen zum Beispiel… Ach, wie wunderbar deine Schwester Akkordeon spielt“, äffte sie nach. „Ganz wundervoll. Er sollte lieber mal hören, wie wunderbar du schimpfen kannst. Aber nimm dich in acht, Olga. Ich habe alles an Papa geschrieben.“ „Jewgenja, höre, was ich dir sage: Dieser Junge ist ein Tunichtgut und außerdem ein Raufbold. Das habe ich selber gesehen.“ Olga bemühte sich, ruhig und gleichgültig zu erscheinen und einen strengen Ton anzuschlagen. „An Papa kannst du schreiben, was du willst, aber wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesem Bengel zusammen sehe, reisen wir am gleichen Tage von hier fort, nach Moskau zurück. Du weißt, daß ich immer Wort halte, also richte dich danach.“ Shenja war in Tränen ausgebrochen. „Du bist ein Tyrann“, schluchzte sie, „ja, das weiß ich.“ „So“, sagte Olga, schon etwas besänftigt, „und nun lies das hier!“ Und sie reichte ihr das in der Nacht angekommene Telegramm und ging ins Haus. In dem Telegramm stand: „Auf der Durchreise einige Stunden in Moskau Aufenthalt. Drahte noch Tag und Stunde. Papa.“ Dicke Tränen kullerten auf das Papier in Shenjas Händen. Doch sie trocknete sich entschlossen die Augen und murmelte nur leise: „Ach ja, Papa, komme bald. Deine Shenja hat Kummer.“ In den Hof des Hauses, aus dem die entlaufene Ziege stammte, wurde Holz eingefahren. Die Großmutter der kleinen Ziegenhirtin Njurka schimpfte auf die Fuhrleute, die das Holz achtlos im Hof hatten herumliegen lassen. Seufzend begann sie die Scheite einzusammeln und aufzuschichten. Diese Arbeit überstieg ihre Kräfte. Sie ermüdete bald, hustete und setzte sich auf die Stufen, die zum Hause führten. Als sie sich erholt hatte, nahm sie die Gießkanne und ging in den Garten. Außer ihr befand sich noch Njurkas dreijähriges Brüderchen auf dem Hof. Der Kleine steckte offenbar voll überschüssiger Lebenskraft, denn kaum war die Großmutter aus seinem Blickfeld verschwunden, als er auch schon nach einem Knüppel griff und damit auf die Bank und ein darauf liegendes umgekehrtes Waschbecken einschlug. Der Lärm, den diese Kraftprobe verursachte, lockte Sima Simakow, der gerade auf die vermißte Ziege Jagd machte, herbei. Als er jetzt das Getöse hörte, ließ er einen Jungen aus seinem Suchtrupp zurück und lief selber mit den übrigen zu dem Hofe. Wie ein Wirbelsturm jagten die Jungen herbei. Zuerst mußte der Kleine beschäftigt werden. Sima steckte ihm eine Handvoll süßer Walderdbeeren in den Mund und schenkte ihm eine glänzende schwarze Dohlenfeder. Dann stürzten sich seine vier Begleiter mit Feuereifer auf die verstreut herumliegenden Holzscheite und begannen sie aufzuschichten. Sima selber lief außen am Zaun entlang, um die Großmutter zu beobachten und nötigenfalls aufzuhalten. Im Schutze der dicht am Zaun stehenden Kirsch-und Apfelbäume blieb Sima stehen und spähte durch die Latten. Die Großmutter hatte Gurken abgenommen und in ihre Schürze getan. Jetzt war sie gerade im Begriff, in den Hof zurückzukehren. Absichtlich geräuschvoll machte Sima sich am Zaun zu schaffen. Lauschend hob die Großmutter den Kopf. Sima hatte einen Stock genommen und die Äste im Apfelbaum hin und her bewegt. Die Großmutter sollte meinen, es klettere jemand über den Zaun, um Äpfel zu stehlen. Sein Plan gelang. Kurz entschlossen ließ die Alte die Gurken zu Boden gleiten und schlich auf den Zaun zu; im Herankommen riß sie schnell noch ein paar Büschel Brennesseln aus. Dann hockte sie am Zaun nieder und wartete. Sima Simakow spähte wieder durch die Latten. Da er die Großmutter nicht gleich sehen konnte, sprang er auf und begann sich vorsichtig am Zaun hochzuziehen. Doch im gleichen Augenblick schoß die Großmutter mit Triumphgeschrei aus ihrem Versteck hervor und schlug Sima mit den Brennesseln auf die Hände. So kam es, daß der gute Sima, die schmerzenden Hände in der Luft schwenkend, gerade in dem Augenblick beim Hoftor anlangte, als die vier Kameraden, die ihre Arbeit beendet hatten, das Grundstück verließen. Nur Njurkas kleiner Bruder war in dem Hof zurückgeblieben. Er las einen Holzsplitter vom Erdboden auf und schleppte dann noch ein Stück Birkenrinde herbei; beides legte er auf den Rand des Holzstapels. Bei dieser Beschäftigung fand ihn die Großmutter, als sie jetzt mit ihren Gurken aus dem Garten zurückkam. Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen blieb sie vor dem fertig aufgeschichteten Holzstapel stehen und fragte, teils zu ihrem Enkel gewandt, teils ins Leere hinein: „Wer hat denn das gemacht, wer arbeitet denn hier?“ Der Kleine kam auf sie zugelaufen und erklärte mit wichtiger Miene: „Ich, Großmutter!“ Während die Großmutter noch über das Rätsel nachdachte, öffnete sich die Pforte, und die Milchfrau kam herein. Sogleich begannen die beiden Alten ihre aufregenden Erlebnisse mit dem Wasser und dem Holz zu besprechen. Alle ihre Bemühungen, etwas aus dem Knirps herauszubekommen, erwiesen sich als müßig. Er plapperte etwas von Kindern, die über den Zaun gesprungen waren und die ihm süße Beeren und eine Feder geschenkt und ihm überdies versprochen hatten, einen Hasen mit zwei Ohren und vier Pfoten für ihn zu fangen. Dann erzählte er noch ziemlich unzusammenhängend, wie diese Jungen die Holzscheite herumgeworfen hätten und schließlich davongelaufen seien. Während die beiden Frauen noch hin und her rieten, was das Kauderwelsch des Kleinen wohl zu bedeuten habe, kam Njurka durch die Pforte herein. „Wo bist du gewesen, Njurka?“ fragte die Großmutter streng. „Bist du jemand begegnet? Es sind Jungen hier im Hof gewesen.“ Aber Njurka hatte nichts gesehen. Sie war sehr niedergeschlagen, denn sie hatte den ganzen Morgen vergeblich nach der entlaufenen Ziege gesucht, sie war durch den Wald gelaufen, hügelauf, hügelab geklettert und war nun müde. Die Großmutter erging sich in sorgenvollen Betrachtungen, die Ziege müsse gestohlen sein. „Und was für eine Ziege das war“, sagte sie zu der Milchfrau, „lammfromm war sie.“ „Lammfromm“, rief Njurka empört. „Wenn sie mit ihren Hornern nach mir stieß, konnte ich mich kaum vor ihr retten. Lämmer haben keine Horner!“ „Schweig still, Njurka“, herrschte die Großmutter sie an. „Du bist eine Schlafmütze. Hast sie weglaufen lassen. Gewiß, Charakter hatte sie, meine Ziege. Verkaufen wollte ich sie“, klagte die Großmutter der Milchfrau, „und nun ist das lammfromme Tier auf und davon.“ Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Hoftür von draußen aufgestoßen wurde, und herein stürmte mit gesenkten Hornern die Vermißte; sie raste in den Hof hinein und direkt auf die Milchfrau zu, die sich und ihre schwere Milchkanne die Treppe hinauf in Sicherheit brachte. Die Ziege, die ihren Anlauf nicht mehr hemmen konnte, stieß mit den Hornern gegen die Mauer. Und jetzt erst entdeckten die Frauen ein Pappschild, das auf die Horner der Ziege gespießt worden war und auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand: Da hast du wieder deine brave Ziege! Doch laß uns nicht noch einmal sehn, daß du die Njurka schlägst, sonst wird dir’s schlecht ergehn. Gleichzeitig hörten die Frauen, wie aus einer Ecke, hinter dem Zaun, sehr befriedigte Jungenstimmen schmetterten: „Wir sind keine Horde, wir sind keine Bande, wir machen der Heimat bestimmt keine Schande! Wir wollen nur helfen, in allen Sachen als Jungkommunisten uns nützlich machen!“ Rasch und lautlos wie ein Vogelschwarm machten die Jungen sich aus dem Staube. Es gab noch vieles zu erledigen, vor allem aber mußte das Ultimatum an Kwakin abgefaßt und ihm überreicht werden. Keiner aus dem Trupp wußte so recht, wie so ein Ultimatum lauten mußte. Daher beschloß Timur, seinen Onkel danach zu fragen. Er erkundigte sich ganz allgemein, wie so ein Schriftstück wohl abgefaßt würde. Der Onkel gab ihm bereitwillig Auskunft. Er meinte, jeder Staat schreibe so ein Ultimatum auf seine Art, aber alle hätten das gemeinsam, daß am Schluß aus Höflichkeitsgründen geschrieben werden müsse: „Herr Minister, ich verbleibe mit dem Ausdruck der größten Hochachtung…“ „Und wie gelangt nun so ein Ultimatum an die Person, an die es gerichtet ist?“ wollte Timur wissen. „Der Gesandte des betreffenden Staates überreicht es dem Außenminister, an dessen Regierung es sich richtet.“ Das Verfahren war sehr umständlich und gefiel weder Timur noch seinem Trupp. Die Jungen waren auch keineswegs geneigt, Kwakin ihre Hochachtung auszudrücken, noch verfügte dessen Bande über Gesandte und Minister. Da war guter Rat teuer. Nach langen Beratungen kamen sie zu dem Schluß, es werde am besten sein, ein Ultimatum nach dem Vorbild des Schreibens der Saporosher an den türkischen Sultan abzufassen, das sie alle gelesen hatten und in dem von dem Kampf der tapferen Kosaken gegen die Türken, die Tataren und Ljachen die Rede gewesen war. Sogar Bilder waren dabeigewesen. Das graue Tor, auf das ein schwarzumrandeter roter Stern gemalt worden war, führte in den schattigen Garten eines Landhauses. Es lag der von Olga und Shenja bewohnten Datsche gegenüber. Vor dem Hause spielte ein blondgelocktes kleines Mädchen im Sande. Die Mutter der Kleinen, die in einem Schaukelstuhl in der Nähe des Fensters saß, sah ihr mit traurigem, müdem Lächeln zu. Auf der Fensterbank neben ihr stand ein großer Strauß Feldblumen. In ihrem Schoß ausgebreitet lagen Telegramme und Briefe von Angehörigen, Freunden und Bekannten. Alle diese Grüße waren voller Zärtlichkeit und voll von warmen Mitgefühl. Diese Beweise der Freundschaft und der Anteilnahme, die aus der Ferne zu ihr kamen, gaben der jungen Witwe die Gewißheit, nicht allein zu sein. Der kleine Blondkopf hatte seine Puppe bei den Beinen gepackt, so daß die Flachshaare und die Holzarme über den Erdboden schleiften. Er starrte wie gebannt auf den Zaun, an dem etwas Seltsames vorging. Ein Hase aus buntbemaltem Holz kletterte den Zaun herab und zupfte dabei mit den Pfoten an den Saiten einer aufgemalten Balalaika. Das kleine Mädchen war über dieses unerklärliche Schauspiel, das seinesgleichen auf der Welt nicht hatte, so begeistert, daß es die Puppe fallen ließ und dicht an den Zaun herantrat. Es griff nach dem Wunderhasen, der ihm sozusagen in die Hände glitt. Gleich darauf tauchte hinter dem Zaun Shenjas Gesicht auf, das schelmisch und befriedigt über den geglückten Spaß lächelte. Der Blondkopf blickte vertrauensvoll zu Shenja auf. „Spiele mit mir“, bat das Kind. Shenja war sogleich bereit. „Soll ich über den Zaun springen?“ „Hier wachsen aber Brennesseln“, warnte die Kleine, „ich habe mir gestern daran wehgetan.“ „Ach, das macht nichts, ich fürchte mich nicht“, rief Shenja fröhlich und kletterte gewandt über den Zaun. „Zeig mir mal die bösen Brennesseln, die dir wehgetan haben. Diese hier? Da guck, jetzt hab ich sie ausgerissen und zertrampelt. Siehst du? Und nun wollen wir spielen. Du nimmst den Hasen und ich die Puppe.“ Von der Veranda aus hatte Olga beobachtet, wie sich Shenja an dem fremden Zaun zu schaffen machte. Sie hatte sich nicht eingemischt, denn die arme Shenja hatte am Vormittag schon zu viele Tränen vergossen. Als sie jedoch sah, wie Shenja über den Zaun geklettert und in den Nachbargarten gesprungen war, hatte Olga beunruhigt das Haus verlassen. Sie war hinübergegangen und hatte die Gartenpforte geöffnet. Shenja stand bereits neben dem kleinen Mädchen am Hause. Die Kleine zeigte ihrer Mutter gerade den buntbemalten Hasen, der auf einer Balalaika spielen konnte. Ein Lächeln erhellte das Gesicht der jungen Frau. Da bemerkte sie, wie Shenja plötzlich unruhig wurde. Sie blickte den Gartenweg entlang und erriet sogleich an Olgas Gesichtsausdruck ihre Unzufriedenheit. „Zürnen Sie Ihrer Schwester nicht“, bat sie, „es ist so lieb von ihr, mit meiner Kleinen zu spielen. Wir haben… einen großen Schmerz… ich weine immerzu… und sie…“ – sie wies auf ihr Töchterchen – „sie weiß noch nicht einmal, daß ihr Papa tot ist… daß er an der Grenze gefallen ist.“ Olga war sehr verlegen. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, um so weniger, als Shenja ihr bitterböse, vorwurfsvolle Blicke zuwarf. „Ich bin ganz allein“, fuhr die junge Frau fort. „Meine Mutter ist in der Taiga, in den Bergen, sehr weit fort von hier. Schwestern habe ich keine, und meine Brüder sind jetzt alle bei der Roten Armee.“ Inzwischen war Shenja dicht an die junge Frau herangetreten, die, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihren Arm berührte und fragte: „Sag, hast du mir heute nacht diesen Strauß aufs Fensterbrett gestellt?“ „Nein“, antwortete Shenja rasch, „ich war es nicht, aber sicher einer von uns.“ Olga sah Shenja verständnislos an. „Von uns – wen meinst du damit?“ Shenja war sehr erschrocken. Sie stotterte: „Ich weiß nicht. Ich war es jedenfalls nicht. Aber seht mal, da kommt jemand.“ Zu ihrem Glück kamen tatsächlich zwei Fliegeroffiziere den Gartenweg entlang. Die junge Frau sah ihnen fragend entgegen. „Sie kommen zu mir und wollen mir sicher wieder zureden, in einen Kurort auf der Krim oder im Kaukasus zu gehen.“ Die beiden Offiziere waren herangekommen und hoben die Hände grüßend an die Mützen. Der ältere, ein Hauptmann, der offenbar die letzten Worte gehört hatte, sagte: „Nein, es handelt sich weder um die Krim noch um den Kaukasus. Sie sollen auch in keinen Kurort und in kein Sanatorium. Aber haben Sie nicht den Wunsch geäußert, Ihre Mutter wiederzusehen? Nun, sie fährt heute von Irkutsk mit der Eisenbahn ab. Bis Irkutsk wurde sie mit einem Flugzeug gebracht.“ „Von wem denn?“ rief die junge Frau freudig erregt. „Von Ihnen etwa?“ „Nein, nicht von uns“, antwortete der Hauptmann, „aber von unseren und Ihren Kameraden.“ Die Kleine kam herbeigelaufen. Sie blieb vor den Offizieren stehen und blickte sie neugierig, aber ohne Scheu an. Offensichtlich waren ihr diese Uniformen vertraut. Nachdem ihre kindliche Neugier befriedigt war, wandte sie sich der jungen Frau zu. „Mama“, bat sie, „mach mir doch eine Schaukel, mit der ich ganz hoch fliegen kann, so hoch wie Papa – so weit weg wie Papa.“ Unwillkürlich traten der jungen Frau wieder die Tränen in die Augen. „Ach, nein“, rief sie fast heftig, „nicht so weit, nicht so weit weg wie dein Papa.“ Und sie riß die Kleine in ihre Arme. An der Malaja-Owrashnaja-Straße liegt eine Kapelle, in der die Wandmalereien verblassen und abbröckeln. Sie zeigen strenge bärtige Greise, kleine Engel und Szenen des Jüngsten Gerichts mit flinken Teufeln und dampfenden Teerkesseln. Hinter dieser Kapelle und einem hohen Zaun hockten auf einer Wiese, die nach Kamillen duftete, Kwakin und seine Spießgesellen; sie vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. An Stelle des fehlenden Geldes wurde um Ohrfeigen, Prügel und „Weck den Toten auf“ gespielt. Das ging so zu: Dem Verlierer wurden die Augen verbunden. Er mußte sich auf den Rücken ins Gras legen. In die Hand bekam er anstatt einer Kerze ein Stück Holz – einen langen Stecken, mit dem er blindlings auf diejenigen einschlagen mußte, die aus lauter Menschenfreundlichkeit den „Toten“ wieder zum Leben erwecken wollten und zu diesem Zweck mit Brennesseln auf seine nackten Knie, Waden und Füße einschlugen. Dieses Spiel war gerade im vollen Gange, als ein scharfes Trompetensignal ertönte. Es waren die Abgesandten von Timurs Trupp, die hinter dem Zaun auftauchten. Kolja Kolokoltschikow schwang als Stabstrompeter sein blankes Horn, und der barfüßige Geika hielt einen Briefumschlag, der aus Packpapier kunstvoll geklebt worden war, in der Hand. Einer von Kwakins Spießgesellen mit dem Spitznamen „die Latte“ hatte sich vorgebeugt, um zu sehen, was es gäbe. „Was tut sich hier?“ schrie er, sich umwendend. „Mischka, leg die Karten weg, hier kommt eine Abordnung zu dir.“ „Hier bin ich“, rief Kwakin. Er kletterte auf den Zaun und schrie, als er Koljas ansichtig wurde: „Oho, was will denn die Rotznase?“ „Hier, nimm diesen Brief“, erwiderte Geika an Koljas Stelle und überreichte Kwakin nicht allzu feierlich das Dokument. „Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit zum Überlegen. Morgen um die gleiche Zeit hole ich mir eine Antwort.“ Gekränkt, daß man ihn eine Rotznase genannt hatte, hob der Trompeter Kolja sein Horn an den Mund und blies eine Fanfare, in die er seinen ganzen Zorn und seine Verachtung legte. Ohne ein weiteres Wort entfernten sich die beiden Abgesandten. Sie fühlten die neugierigen Blicke von Kwakins Spießgesellen, die auf den Zaun geklettert waren, auf sich ruhen und bemühten sich, würdevoll davonzugehen. Als sie nicht mehr zu sehen waren, drehte Kwakin den braunen Packpapierumschlag in der Hand hin und her und prüfte ihn von allen Seiten. Offenen Mundes starrten die im Kreise herumstehenden Jungen auf ihren Anführer. „Was soll das alles bedeuten?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Was stören die unsern Frieden? So mir nichts, dir nichts kommen sie an, machen Krach mit ihrer Trompete, machen sich wichtig. Ich begreife nichts von alledem.“ Er riß den Umschlag auf und begann zu lesen, ohne seinen Platz auf dem Zaun zu räumen: „,An den Ataman der Plünderer fremder Obstgärten, Michael Kwakin…’ Das geht mich an.‚ … ferner an seinen übel beleumdeten Spießgesellen, Pjotr Pjatakow, genannt die Latte…’ Das bist du … Mein Spießgeselle! Fein ist das nicht! … Und weiter heißt es hier: ‚… sowie an alle Bandenmitglieder richtet sich unser Ul-ti-ma-tum.’ Was ist das? Weiß das einer? Sicher irgend so ein Schimpfwort.“ „Das ist ein internationales Wort“, erklärte Aljoschka, ein verschlagen aussehender Junge mit glatt geschorenem Kopfe, der neben der Latte stand. „Tüchtig verhauen muß man die. So eine Frechheit!“ „Ruhe“, gebot Kwakin, „ich lese weiter: ‚Erster Punkt. In Anbetracht der Tatsache, daß Ihr nachts Überfälle auf die Gärten friedlicher Bürger macht und auch d i e Häuser nicht schont, an denen unser Zeichen, der rote Stern, angebracht wurde, ja, daß Ihr sogar den Stern mit dem Trauerrand mißachtet, befehlen wir Euch feigen Schurken folgendes …’ Sieh mal an, wie die schimpfen können“, unterbrach sich Kwakin. Man konnte ihm seine Verlegenheit anmerken. Offenbar war ihm nicht wohl in seiner Haut, obgleich er sich bemühte, harmlos zu lächeln. „Achtung, es geht weiter! ‚Morgen früh haben sich Michael Kwakin und die übel beleumdete Person, genannt die Latte, an der Stelle einzufinden, die unsere Abgesandten ihnen bezeichnen werden. Mitzubringen ist ein vollständiges Verzeichnis der Mitglieder Eurer schändlichen Bande. Im Falle einer Weigerung behalten wir uns das Recht zu völliger Handlungsfreiheit vor.’“ So lautete das Ultimatum. Als Kwakin geendet hatte, entstand eine Pause; schließlich brach er selber das unbehagliche Schweigen. „Was wollen die denn mit Handlungsfreiheit sagen? Soll das vielleicht eine Drohung sein?“ „Ach, das ist Quatsch. Gehörig durchprügeln muß man sie“, erklärte der kahlköpfige Aljoschka noch einmal. „Das hätten wir uns nicht so lange überlegen sollen“, meinte Kwakin zustimmend. „Schade, daß wir Geika haben gehen lassen. Der hat wohl schon lange nicht mehr richtig geheult.“ „Der wird nicht heulen“, widersprach Aljoschka. „Dem sein Bruder ist Matrose.“ „Na und?“ „Sein Vater war auch Matrose. Geika wird bestimmt nicht heulen.“ „Was für ein Unsinn. Mein Onkel ist auch Matrose.“ „Laßt doch das dämliche Gequatsche.“ Kwakin war wütend. „Was gehen uns eure Brüder, eure Väter und eure Onkel an? Du hast einen Sonnenstich, Aljoschka. Was hast du zu murren, Latte?“ „Ich sage, die Burschen müssen morgen früh festgenommen werden. Die dürfen wir nicht wieder freilassen. Timur muß mit seiner Rasselbande tüchtig Prügel beziehen“, erklärte die Latte. Er fühlte sich durch das Ultimatum besonders angegriffen. Nach einigem Hin und Her wurde sein Vorschlag angenommen. Kwakin und die Latte hatten sich zu einer geheimen Verhandlung in den Schatten der Kapelle zurückgezogen. An der Wand zu ihren Köpfen schleppten grimmige Teufel wild um sich schlagende arme Sünder zu den dampfenden Teerkesseln. „Höre mal, Latte“, fragte Kwakin streng, „bist du in den Garten geklettert, der dem gefallenen Leutnant gehört?“ Nach einigem Zögern gestand Latte. Kwakin brummte etwas Unverständliches. Dann meinte er: „Auf Timurs Zeichen pfeife ich, und Prügel bekommt er allemal, aber…“ Nachdenklich trommelte er mit den Fingern gegen die Mauer. „Was zeigst du denn immer auf den Teufel?“ fragte, die Latte. „Du machst mich ganz nervös damit. Soll das vielleicht eine Anspielung sein?“ Kwakin lachte boshaft. „Wenn du so willst. Du siehst ihm übrigens ähnlich, diesem langen ekligen Teufel.“ Am nächsten Morgen traf die Milchfrau auf ihrem Rundgang drei ihrer Kundinnen nicht zu Hause an. Sie überlegte. Sollte sie die Milch noch auf den Markt bringen? Doch dazu war es wohl zu spät. So beschloß sie, weiterzugehen und die übriggebliebene Milch in einigen Häusern anzubieten. Sie nahm die schweren Kannen und machte sich auf den Weg. Nach einigen vergeblichen Besuchen kam sie auch zu dem Häuschen, das Timur mit seinem Onkel bewohnte. Im Garten wurde gesungen, sie hörte eine volle, angenehme Stimme. Hier war jemand zu Hause; sie würde ihre Milch also loswerden. Die Alte trat durch die Pforte in den Garten und rief in singendem Tonfall: „Milch, frische Milch gefällig?“ Eine jugendliche Männerstimme ließ sich vernehmen: „Ja, zwei Liter, bitte.“ Die Alte stellte die Kannen ab, wandte sich um und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie bekam einen furchtbaren Schreck. Aus dem Gebüsch kam ein alter Mann heraus; das graue Haar umgab sein Gesicht in unordentlichen Strähnen. Er war in Lumpen gehüllt. In der einen Hand hielt er einen blanken krummen Säbel. Der Alte hatte einen Stelzfuß und humpelte auf sie zu. Die Milchfrau suchte unauffällig zur Gartenpforte zu gelangen. „Ich fragte nur, Väterchen, ob Milch gefällig ist“, stammelte sie. „Du siehst ja so streng aus, Väterchen. Du schneidest wohl das Gras mit dem Säbel?“ „Zwei Liter will ich“, brummte der Alte und stieß die Säbelspitze in die Erde. „Der Topf steht dort auf dem Tisch.“ „Kaufe dir doch lieber eine Sense, Väterchen“, schlug die Milchfrau ängstlich vor, während sie an den Tisch trat und schnell die gewünschte Milch in das bereitstehende Gefäß goß. „Den Säbel solltest du lieber wegwerfen, Väterchen“, fuhr sie fort, „damit kannst du ja einen harmlosen Menschen zu Tode erschrecken.“ Der Alte ging nicht auf ihr aufgeregtes Geschwätz ein. „Was kostet die Milch?“ fragte er unwirsch und griff in die Tasche seiner weiten Hose. „Wie überall“, stotterte die Alte, „1,40 der Liter, also 2,80. Ich verlange nicht mehr, als recht ist.“ Der Alte kramte noch immer in seiner Tasche und brachte schließlich eine unförmige, verrostete Pistole zum Vorschein. Kaum hatte die Milchfrau das Ungetüm gesehen, als sie auch schon ihre Röcke zusammenraffte, ihre Milchkannen packte und, so schnell ihre alten Beine sie trugen, davonlief. „Ich komme nachher, Väterchen“, rief sie. „Bemühe dich nicht, mein Lieber!“ Und während sie ihren Lauf beschleunigte und sich ängstlich umblickte, fügte sie hinzu: „Ich habe es nicht so eilig mit dem Geld.“ Sie lief hinaus, warf die Gartenpforte hinter sich zu, blieb aufatmend stehen und schrie wütend von der Straße her: „Ins Irrenhaus muß man dich bringen, du alter Satan. Hinter Schloß und Riegel setzen und nicht wieder herauslassen!“ Der Krüppel zuckte die Achseln, steckte die drei Rubel, die er aus der Tasche gezogen hatte, wieder zurück und ließ die Pistole hinter seinem Rücken verschwinden, denn eben betrat der alte Kavalier, Doktor Kolokoltschikow, den Garten. Auf seinen Stock gestützt, schritt er aufrecht und würdevoll auf den Alten zu. Sein Gesichtsausdruck war gesammelt und ernst. Bei dem seltsamen Anblick, den sein Gegenüber bot, hüstelte er, schob seine Brille zurecht und fragte: „Können Sie mir sagen, mein Lieber, wo ich den Hausherrn finde?“ „Wenn Sie dieses Haus meinen“, antwortete der Alte gedehnt, „so nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich darin wohne.“ „Nun“, fuhr der grauhaarige Kavalier fort, indem er den Rand seines Strohhutes grüßend berührte, „dann können Sie mir vielleicht sagen, ob ein gewisser Timur Garajew ein Verwandter von Ihnen ist?“ „Jawohl“, erwiderte der Alte, „dieser gewisse Timur ist mein Neffe.“ „Es tut mir leid“, erklärte der grauhaarige Kavalier und hüstelte von neuem, weil sein Blick auf den in der Erde steckenden Säbel gefallen war, „aber ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Neffe ein Lausbube ist, der gestern den Versuch gemacht hat, bei mir einzubrechen.“ Nun war der Alte an der Reihe, erstaunt zu sein. „Mein Neffe Timur hat versucht, bei Ihnen einzubrechen?“ „Jawohl“, erklärte der alte Kavalier, „während ich schlief, hat er versucht, mir die Wolldecke, mit der ich zugedeckt war, vom Bett wegzustehlen.“ „Was denn, Timur soll das versucht haben? Eine Wolldecke wollte er stehlen?“ Der Hausherr schien nun doch etwas unsicher. Die Hand, in der er die Pistole hinter seinem Rücken verbarg, bewegte sich unwillkürlich. Doktor Kolokoltschikow wurde ebenfalls unruhig. „Ich würde Sie ja nicht belästigen, aber die Tatsachen, lieber Herr, sprechen für sich…“ Als der Alte einen Schritt auf ihn zumachen wollte, winkte der würdige Kavalier ab und rief: „Ach bitte, bleiben Sie dort stehen… Ihr Benehmen ist so merkwürdig.“ Doch der Alte ließ sich nicht beirren. Energisch trat er vor und sagte: „Glauben Sie es mir, es kann sich nur um ein Mißverständnis handeln.“ Doktor Kolokoltschikow hatte die Pistole in der Hand seines Widersachers erspäht. Er heftete den Blick darauf, trat einige Schritte zurück und bemerkte: „Unser Gespräch nimmt eine unerwünschte Wendung. Ich möchte sogar behaupten, daß dieser Verlauf uns beiden in unserem Alter Unehre macht.“ Langsam, Schritt für Schritt zurückgehend, hatte Doktor Kolokoltschikow jetzt die Pforte erreicht, die zum Glück noch offenstand. Mit einem Satz war er draußen. Er entfernte sich rasch und brabbelte im Gehen vor sich hin: „Ein merkwürdiges Benehmen!“ Der Alte war ihm bis zur Pforte nachgekommen, nun sah er, wie der erregte Doktor Kolokoltschikow mit Olga zusammentraf, die zum Baden ging. Da begann der vermeintliche Krüppel wie närrisch mit den Armen herumzufuchteln, er versuchte Olgas Aufmerksamkeit zu wecken; er schrie ihr zu, sie möge stehenbleiben, und gestikulierte lebhaft dabei. Doch Olga nahm keine Notiz von ihm. Sie wandte sich nicht einmal um, und als der Doktor Kolokoltschikow nach ihrer Hand griff und sie mit sich fortzog, folgte sie ihm bereitwillig. Als die beiden um die Ecke verschwunden waren, geschah etwas Unerwartetes. Der Alte mit dem Stelzfuß begann mit einem Male ausgelassen herumzuspringen. Er summte ein Liedchen, bückte sich, schnallte den Riemen los, mit dem das Holzbein befestigt war, warf es ins Gras und lief auf zwei gesunden Beinen dem Hause zu, wobei er Bart und Perücke herunterriß. Etwa zehn Minuten später verließ Ingenieur Georgi Garajew das Haus; er sprang fröhlich die Stufen hinab und lief zum Schuppen, um sein Motorrad herauszuholen, dann rief er noch dem struppigen Hunde zu, er solle das Haus gut beschützen, schwang sich in den Sattel, trat kräftig auf den Anlasser und fuhr rasch in Richtung Fluß davon. Er hoffte dort Olga anzutreffen. Wie sie es angekündigt hatten, begaben sich Geika und Kolja Kolokoltschikow pünktlich zu der vereinbarten Stelle, um die Antwort auf Timurs Ultimatum entgegenzunehmen. „Halte dich gerade“, mahnte Geika, „gehe ruhig und sicher, du läufst wie ein Küken, das hinter Würmern herhopst. Ich weiß nicht, was mit dir ist. Du hast eine anständige Hose an, und dein Hemd ist auch sauber, und trotzdem siehst du nach nichts aus. Du brauchst nicht gleich beleidigt zu sein. Das ist eine sachliche Feststellung. Weshalb verrenkst du dir eigentlich beim Gehen die Zunge? Mach doch den Mund zu und laß deine Zunge da, wo sie hingehört.“ Er unterbrach sich und blieb stehen, um Sima Simakow zu erwarten, der auf sie zukam. „Was willst du denn hier?“ fragte er. „Timur hat mich euch nachgeschickt. Ich soll den Verbindungsmann machen. Das muß auch so sein. Ihr versteht nur nichts davon.“ Sima tat sehr wichtig. „Ich habe meinen Auftrag, und ihr habt den euren. Laß mich mal in dein Horn blasen, Kolja“, bat er plötzlich, seine neue Würde außer acht lassend. „Spiel dich nur nicht so auf, Geika“, rief er dann mißbilligend. „Wie siehst du überhaupt aus? Hast keine Stiefel an. Was soll das? Gehen Abgesandte barfuß? Na, macht nur, daß ihr weiterkommt. Auf Wiedersehen!“ Und fort war er. „So ein Blödian“, schimpfte Geika hinter ihm her und schüttelte ärgerlich den Kopf, „schwätzt und schwätzt und findet kein Ende. Paß auf, Kolja. Da ist schon der Zaun. Du mußt in dein Horn blasen.“ Sobald sie einen von der Bande erspäht hatten, rief Geika ihm zu: „Wo bleibt Kwakin? Her mit ihm!“ „Wir erwarten euch“, rief Kwakin, der hinter dem Zaun stand, mit gemacht freundlicher Stimme. „Da rechts durchs Tor geht es; wir haben es schon aufgemacht.“ „Geh nicht“, warnte Kolja und zupfte Geika am Ärmel, „sie werden uns überfallen und gehörig durchbleuen.“ Aber Geika stellte sich taub. „Blase, Kolja“, befahl er. „Sie müssen uns freies Geleit geben. Das ist so der Brauch.“ Und stolz erhobenen Hauptes schritt Geika seinem Kameraden voran durch die verrostete Gitterpforte. Sie wurden von der vollzähligen Bande – an der Spitze Kwakin und die Latte – erwartet. „Wir wollen eine Antwort auf unseren Brief“, erklärte Geika in herausforderndem Ton. Doch Kwakin schlug scheinheilig vor: „Setzt euch und laßt uns miteinander reden.'' Aber Geika war auf der Hut. „Erst die Antwort auf unseren Brief. Reden können wir nachher.“ Die Mitglieder der Kwakin-Bande beobachteten Geika voller Neugier. Was wollte der stämmige Junge im Matrosenhemd? War das Spaß? War es ein Spiel? Und der kleine blaß gewordene, verängstigte Trompeter neben ihm? Oder meinte es dieser barfüßige Bengel mit den zusammengekniffenen Lippen und den streng blickenden grauen Augen vielleicht ernst? War er von seinem Recht überzeugt, und pochte er auf seine Kraft? „Hier hast du unsere Antwort.“ Kwakin reichte Timurs Abgesandten einen zusammengefalteten Bogen. Geika nahm ihn und faltete ihn auseinander. Eine Zeichnung war darauf – ein grob gezeichneter Kopf, eine Hand, die eine lange Nase machte, darunter stand ein sehr häßliches Schimpfwort. Gelassen und ohne ein Wort der Erwiderung zerriß Geika das Blatt in kleine Fetzen. Er war noch nicht zu Ende damit, als sich sämtliche Jungen auf ihn und Kolja stürzten. Beide wurden zu Boden geworfen und umklammert. Sich zu wehren hatte keinen Sinn. Wütend schrie Kwakin: „Die Fresse zerschlagen sollte man euch für euer unverschämtes Ultimatum. Wir haben aber Mitleid mit euch. Bis heute nacht werdet ihr hier eingesperrt.“ Er wies auf die Kapelle. „Inzwischen werden wir den Garten von Nummer vierundzwanzig restlos ausplündern. Verstanden?“ „Das werdet ihr nicht tun“, antwortete Geika ohne eine Spur von Erregung. Doch die Latte geriet in Wut. „Wir werden es tun“, schrie er und versetzte Geika, der sich nicht wehren konnte, eine schallende Ohrfeige. Geika blieb noch immer gelassen. Er blinzelte nur ein wenig mit den Augen und biß die Zähne aufeinander, um den Schmerz zu verbeißen. Dann blickte er Kolja an, der in seiner unverhohlenen Angst ein Bild des Jammers bot. „Sorge dich nicht“, tröstete er, „ich bin sicher, daß bei uns drüben sehr bald Alarmstufe eins gegeben wird.“ „Es ist genug geschwätzt worden“, erklärte jetzt Kwakin. „Fort mit den beiden.“ Die Gefangenen wurden in die Kapelle gestoßen. Die eisernen Fensterläden waren fest geschlossen. Die Tür wurde unsanft zugeknallt und ein Riegel vorgeschoben, der aus Vorsicht noch mit Holzkeilen gesichert wurde. Ein Entrinnen gab es nicht. Zum Überfluß trat die Latte noch dicht an die Fensterläden heran und schrie spöttisch hinein: „Na, nach wem geht es jetzt? Nach euch oder nach uns?“ Von drinnen wurde zurückgerufen: „Abwarten, es ist noch nicht aller Tage Abend.“ Verächtlich spuckte die Latte aus. Nur Aljoscha hatte einige Bedenken. „Geikas Bruder ist Matrose“, brummte er, „er dient mit meinem Onkel zusammen auf dem gleichen Schiff.“ „Na und?“ fragte die Latte drohend. „Was geht denn dich das an? Bist du vielleicht der Kapitän?“ Doch so leicht gab sich der kahlköpfige Aljoscha nicht zufrieden. „Seine Hände sind gebunden, und du schlägst ihn. Findest du das richtig?“ Die Latte, die wohl Gewissensbisse haben mochte, wurde wütend. „Soll ich dir eine runterhauen?“ Und schon bekam Aljoscha eine tüchtige Ohrfeige. Im Nu lagen beide an der Erde, schlugen aufeinander los und kullerten über den Rasen. Sie mußten gewaltsam getrennt werden. Durch diesen aufregenden Zwischenfall hatte keiner der Anwesenden bemerkt, daß jenseits des Zaunes, hoch oben, in einer dichtbelaubten Linde Sima Simakows Kopf aufgetaucht war. Er hatte genug gesehen. Rasch und geräuschlos glitt er von dem Baum herab. Auf direktem Wege, über Hecken und Zäune hinweg und durch fremde Gärten stürmte er zu Timur und seinem Trupp, die ihn am Flußufer erwarteten. Olga hatte sich am Ufer im heißen Sand ausgestreckt und las. Die Stirn schützte ein zusammengefaltetes feuchtes Tuch. Shenja war noch im Wasser. Sie war weit hinausgeschwommen und genoß das Vergnügen, sich im Wasser zu tummeln. Plötzlich tauchte neben ihr eine zweite Schwimmerin auf, ein junges Mädchen mit dunklen Augen in einem frischen, offenen Gesicht. Es schwamm dicht an Shenja heran: „Ich komme von Timur“, flüsterte es. „Ich heiße Tanja und gehöre zu seinem Trupp. Timur macht sich Vorwürfe, weil deine Schwester dich seinetwegen ausgezankt hat. Ist deine Schwester noch immer böse?“ Shenja mußte sich erst von ihrer Überraschung erholen. Auf was für Einfälle dieser ungewöhnliche Timur doch kam. „Ach“, entgegnete sie ebenfalls im Flüsterton, „er braucht sich keine Vorwürfe zu machen. Olga ist auch gar nicht mehr böse. Sie wird nur so leicht heftig. Das wird alles besser, wenn Papa kommt…“ Die Mädchen schwammen eine Weile einträchtig nebeneinander her, dann beschlossen sie, aus dem Wasser zu steigen, und kletterten die Uferböschung links von der Stelle, an der Olga im Sande lag, hoch. Hier trafen sie auf Njurka. „Mädchen, kennst du mich noch?“ fragte sie, zu Shenja gewandt. Wie immer, redete sie sehr schnell und stieß die Worte zwischen den zusammengepreßten Lippen vor. „Ich habe dich gleich wiedererkannt. Da drüben ist Timur mit der ganzen Bande.“ Sie wies auf das gegenüberliegende Ufer, an dem es von größeren Jungen wimmelte. Rasch streifte Njurka ihren Kittel ab, dabei flüsterte sie: „Ich weiß jetzt, wer unsere Ziege wieder eingefangen hat, ich weiß auch, wer unser Holz aufgestapelt und meinem Brüderchen Walderdbeeren geschenkt hat.“ Zu Tanja gewandt, fuhr sie fort: „Und dich kenne ich auch. Ich habe dich einmal im Garten sitzen und weinen sehen. Du mußt nicht weinen, das hat doch keinen Zweck…“ Plötzlich unterbrach sie sich und schrie die an einem Baum festgebundene Ziege an: „Willst du wohl liegen bleiben, du Satan. Wenn du dich rührst, schmeiß ich dich ins Wasser. Kommt ihr mit schwimmen?“ fragte sie die Mädchen. Shenja und Tanja wechselten einen Blick. Sie war zu drollig, diese kleine braungebrannte Njurka; wie eine Zigeunerin sah sie aus. Dann faßten die drei Mädchen einander an den Händen, sie traten dicht an das Ufer. Zu ihren Füßen glitt das klare blaue Wasser rasch dahin. „Eins, zwei, drei, los!“ Alle zusammen sprangen sie ins Wasser und tauchten unter. Als sie wieder hochkamen, hatte sich ihnen ein vierter Schwimmer zugesellt. Es war Sima Simakow, der sich, völlig angekleidet, in Hemd und Turnhosen, die Sandalen an den Füßen, ins Wasser gestürzt hatte, um schneller zu Timur zu gelangen. Er schüttelte die nassen Haare und schwamm mit weitausholenden Armbewegungen an ihnen vorbei zum anderen Ufer. Als er Shenja erkannte, rief er über die Schulter zurück: „Es ist was passiert! Man hat Geika und Kolja in eine Falle gelockt!“ Olga ging, in ihrem Buch lesend, den Berg hinauf. Dort, wo der steile Pfad die Straße kreuzte, traf sie Georgi, der neben seinem Motorrad am Wegrand stand. Als er Olgas überraschten Blick sah, erklärte er wortreich: „Wie ich hier langfahre, sehe ich Sie den Pfad heraufkommen. Da dachte ich mir, ich werde Sie erwarten. Ich könnte Sie ja mitnehmen, da wir den gleichen Weg haben.“ Aber Olga sah ihn zweifelnd an. „Sie erzählen mir ja ein Märchen“, rief sie. „Sie haben mir absichtlich hier aufgelauert. Stimmt’s?“ Georgi lachte. Da er durchschaut war, hatte es keinen Sinn mehr zu leugnen. Fröhlich gab er zu: „Ja, es stimmt. Ich wollte ein bißchen schwindeln, es ist mir aber mißglückt. Ich muß mich auch noch bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie heute früh erschreckt habe.“ Und als Olga ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: „Ja, wissen Sie, der Alte mit dem Stelzfuß, der mit Doktor Kolokoltschikow sprach, das war ich. Ich hatte mich probeweise für ein Theaterstück geschminkt und maskiert. Aber wollen Sie nicht aufsteigen? Ich bringe Sie nach Hause.“ Doch Olga schüttelte verneinend den Kopf. Schnell bückte sich Georgi und pflückte am Straßenrand ein paar Blumen. Es war ein schöner kleiner Strauß. Er legte ihn auf Olgas Buch. Doch nun geschah etwas völlig Unfaßbares. Olga errötete bis in die Haarwurzeln, bekam einen verstörten, ärgerlichen Ausdruck und… warf die Blumen unwillig auf die Erde. „Hören Sie“, begann er und versuchte seine tiefe Enttäuschung zu verbergen, „was haben Ihnen die Blumen getan? Sie dürfen es mir nicht verübeln, daß ich Ihre Stimme und Ihr Akkordeonspiel bewundere. Sie haben eine schöne Stimme und schöne Augen, Olga. Aber so, wie Sie eben gehandelt haben, verzeihen Sie, so handelt kein Mensch mit Herz und Gefühl.“ Olga hatte die Augen niedergeschlagen, sie war jetzt selbst erschrocken über ihr Benehmen. „Die Blumen…“, stotterte sie schuldbewußt, „es war nicht böse gemeint… ich will gern… auch so mit Ihnen fahren.“ Sie schwang sich kurz entschlossen auf den Ledersitz hinter Georgi. Er trat den Anlasser herunter, und gleich darauf rasten sie den Berg hinauf. Als sie zu einer Wegkreuzung kamen, bog Georgi ab und fuhr zwischen den Feldern weiter. Die Straße, die zur Siedlung führte, ließ er seitwärts liegen. „Sie fahren ja verkehrt“, schrie Olga, „wir müssen nach rechts.“ Georgi wandte sich halb um. „Hier ist die Straße, besser“, schrie er zurück, „es ist auch lustiger hier.“ Obgleich nun Olga nicht recht einsehen konnte, inwiefern die Straße besser oder gar lustiger sein sollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu ergeben. Wieder kam eine Kurve, und dann rasten sie durch ein schattiges Wäldchen. Ein Hund, der zu einer Herde auf dem angrenzenden Feld gehörte, verließ seine Schafe und folgte ihnen laut bellend eine Wegstrecke. Es gelang ihm aber nicht, sie einzuholen; enttäuscht kehrte er um und trottete zur Herde zurück. Mit ohrenbetäubendem Lärm kam ihnen ein Lastzug entgegen. Als sich die Staubwolke wieder gesenkt hatte, sahen Olga und Georgi im Tal Rauch aufsteigen, sie sahen Türme, Schornsteine und Dächer – vor ihnen breitete sich eine für Olga unbekannte Stadt aus. „Da unten liegt unsere Fabrik“, rief Georgi. „Vor drei Jahren bin ich von dort oft hier heraufgefahren, um Pilze oder Erdbeeren zu sammeln.“ Fast ohne die Fahrt zu verlangsamen, nahm das Motorrad eine scharfe Kurve. „Sie müssen jetzt umkehren. Ich will nach Hause“, rief Olga. Doch plötzlich setzte der Motor aus, und sie hielten an. „Es wird nichts weiter sein“, rief Georgi, der abgestiegen war und Olga vom Rücksitz half, „eine kleine Panne vielleicht.“ Er legte das Motorrad im Schatten einer Birke auf die Seite und begann an der Maschine herumzuschrauben. Olga hatte sich ins Gras gesetzt und sah ihm zu. „Wann spielen Sie eigentlich Ihre Oper?“ fragte sie etwas unvermittelt und fügte dann hinzu: „Weshalb müssen Sie sich denn so abstoßend häßlich schminken?“ „Ich spiele einen alten Mann, einen Invaliden“, sagte Georgi, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. „Es handelt sich um einen früheren Partisanen, der nicht ganz richtig im Kopfe ist. Er wohnt dicht an der Grenze und fürchtet ständig einen feindlichen Überfall. Er ist ein alter Mann, äußerst mißtrauisch und vorsichtig. Die Rotarmisten hingegen sind junge Leute, die viel lachen und nach dem Dienst Ball spielen… Mädels sind auch dabei… Katjuschas!“ Georgis Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. Leise sang er vor sich hin: „Hinter den Wolken verschwindet der Mond. Schon in der dritten Nacht steh ich auf einsamer Wacht. Feinde schleichen umher, bedrohen die Heimat so sehr. Ich bin so schwach, bin so alt, kommt mir zu Hilfe bald…“ Sodann ahmte Georgi mit völlig veränderter, verjüngter Stimme den Chor der Rotarmisten nach: „Alter, laß die Sorgen, bald sind wir bei dir…“ „Was soll denn das bedeuten?“ fragte Olga und wischte sich mit dem Taschentuch den Staub von den Lippen. „Das ist eine Szene aus der Oper, die wir aufführen wollen. Der Alte bildet sich ein, Feinde seien in der Nähe, und ruft Hilfe herbei. Nun ruft der Chor ihm zu: Sei unbesorgt; schon längst stehen die Rotarmisten auf ihrem Posten…“ Georgi blickte in Olgas gespanntes Gesicht. Etwas unvermittelt wechselte er das Thema und fragte: „Hat Ihnen Ihre kleine Schwester eigentlich etwas von unserer Begegnung erzählt, Olga?“ Olga nickte. „Ja, ich habe sie ausgezankt.“ „Weshalb denn das? Sie ist ein sehr liebes Mädchen und versteht außerdem Spaß. Ich habe A gesagt, und sie hat B gesagt.“ „Dieses Mädchen, das Spaß versteht, macht mir rechte Sorge“, sagte Olga mißbilligend. „Da ist ein fremder Junge, Timur heißt er, glaube ich, der läßt ihr keine Ruhe. Er steckt mit dem Strolch, dem Michael Kwakin unter einer Decke. Ich habe die beiden selber zusammen gesehen. Ewig treibt er sich hier auf unserem Grundstück herum.“ „Timur? Und der, meinen Sie, gehört zur Kwakin-Bande?“ Georgi räusperte sich. „Das stimmt nicht. Seien Sie aber ohne Sorge, Olga. Er wird sich in Zukunft nicht mehr hier herumtreiben. Nun aber zu etwas ganz anderem… Weshalb studieren Sie eigentlich nicht Musik? Sie wollen Ingenieur werden, hat mir Ihre Schwester erzählt.“ „Ja, das möchte ich, es ist ein interessanter Beruf. Finden Sie das nicht auch?“ sagte Olga, indem sie verlegen von ihm abrückte. „Doch Sie sind, glaube ich, ein schlechter Ingenieur, denn mit Ihrem Motorrad scheinen Sie nicht zu Rande zu kommen.“ „Das wollen wir erst mal sehen“, rief Georgi übermütig und sprang auf. „Fertig. Wir können fahren. Sagen Sie, Olga“, rief er dann, „Ihr Vater ist doch Offizier?“ „Ja“, erwiderte Olga etwas verblüfft über diese unmotivierte Frage. „Das ist schön. Ich bin nämlich auch Offizier.“ Olga staunte. „Man kennt sich wirklich nicht mehr aus. Mal sind Sie Ingenieur, mal Schauspieler und nun auch Offizier. Sind Sie vielleicht gar Flieger?“ „Nein“, Georgi schmunzelte, „das Gegenteil – die Flieger kämpfen von oben, wir hingegen von unten, von der Erde aus – ich gehöre zu den Ingenieurtruppen.“ Sie hatten das Motorrad wieder bestiegen und brausten nun die Landstraße entlang, an Feldern und Flüssen vorbei, bis sie in der Siedlung bei Olgas Landhäuschen anlangten. Als Shenja das Motorrad knattern hörte, trat sie auf die Veranda hinaus. Bei Georgis Anblick wurde sie rot und verlegen. Er verabschiedete sich schnell und raste auf seiner Maschine davon. Als die beiden Schwestern allein waren, warf sich Shenja ungestüm an Olgas Brust. „Oh“, rief sie, „du siehst ja so glücklich aus.“ Die Mitglieder von Kwakins Bande hatten vereinbart, abends in der Nähe des Hauses Nummer vierundzwanzig wieder zusammenzutreffen. Jetzt liefen die Jungen nach allen Seiten auseinander. Nur die Latte war auf der Wiese zurückgeblieben. In der Kapelle blieb alles still. Erst wunderte sich die Latte. Die Gefangenen schrien nicht, machten sich auch nicht durch Klopfen bemerkbar und beachteten seine Zurufe überhaupt nicht. Pjotr Pjatakow begann sich zu ärgern. Schließlich nahm er Zuflucht zu einer List. Geräuschlos öffnete er die Pforte zum Vorraum und schlich zur Kapellentür. Das Ohr ans Schlüsselloch gepreßt, lauschte er. Er war so vertieft, daß er nicht merkte, was ringsumher vorging, bis plötzlich hinter ihm die Tür zum Vorraum mit lautem Knall zugeworfen wurde. Er fuhr herum und rannte zu der Tür. Was draußen vorging, konnte er von hier aus nicht übersehen. „Wer ist da?“ brüllte er. „Laßt die dummen Späße.“ Es kam keine Antwort. Draußen wurde gesprochen, doch er kannte die Stimmen nicht. An der anderen Seite der Kapelle sprach jemand im Flüsterton durch den Fensterladen zu den Gefangenen. In der Kapelle wurde gelacht. Die Latte erschrak heftig. Es verging einige Zeit. Dann wurde die Tür zum Vorraum plötzlich aufgerissen, Timur, Simakow und Ladygin standen vor dem überraschten Pjotr. „Mach die Kapellentür auf“, befahl Timur, „ein bißchen dalli, sonst geht’s dir schlecht.“ Und er drohte mit den Fäusten. „Zum Quatschen haben wir jetzt keine Zeit“, fügte er hinzu, als Pjotr Einwände machen wollte. Unwillig, aber von der Übermacht eingeschüchtert, schob die Latte den Riegel zurück und öffnete die Tür. Mit einem verächtlichen Seitenblick auf ihren Wächter kamen Kolja und Geika heraus. „So, und nun hinein mit dir, du Reptil“, schrie Timur und schob den sich nur schwach wehrenden Pjotr unsanft ins Innere der Kapelle. „Fix, fix, mach daß du hineinkommst!“ Die Türen schlossen sich hinter dem Gefangenen. Vor die Außentür wurde zur Sicherheit noch der Querbalken vorgelegt und, nachdem der Riegel vorgeschoben war, festgenagelt. Dann nahm Timur ein am Boden liegendes Stück Packpapier und schrieb in ungelenker Schrift mit Blaustift darauf: „Kwakin! Den Wachposten haben wir hinter Schloß und Riegel gesetzt. Wir erwarten dich und deine Spießgesellen. Auf Wiedersehen heute abend.“ Nachdem dies alles zur Zufriedenheit erledigt war, verschwanden die Jungen ebenso lautlos, wie sie gekommen waren. Es vergingen keine fünf Minuten, da tauchte Kwakin an einer Mauerecke auf. Er schlich zur Kapelle, fand Timurs Zettel, las ihn, prüfte Schloß und Riegel, hielt das Ganze für einen schlechten Scherz und ging gemächlich bis zur Pforte, während die Latte drinnen verzweifelt mit den Fäusten gegen die eiserne Tür hämmerte. An der Pforte angelangt, drehte Kwakin sich um. „Streng dich nicht an, Geika“, rief er höhnisch zurück, „du wirst heute abend noch genauso lärmen.“ Offenbar hatte Kwakin Timurs Botschaft für eine Finte gehalten. Darüber, daß die Latte nirgends zu sehen war, machte sich der wackere Bandenführer weiter keine Gedanken. Pjotr war unzuverlässig, das wußte er. Die Ereignisse nahmen also ihren Lauf. Kurz vor Sonnenuntergang liefen Timur und Simakow zum Marktplatz. Am Rande des Platzes, an dem zur Marktzeit die Stände aufgebaut wurden, in denen es Gemüse, Lebensmittel, Getränke, Eis und Tabak zu kaufen gab, stand eine rohgezimmerte Holzbude. Sie war leer. An den Markttagen betrieb hier ein Schuster sein Handwerk. Timur und Simakow betraten die Bude, hielten sich aber nicht lange darin auf. In der Dämmerung wurde das Rad auf dem Dachboden in Bewegung gesetzt. Die Schnüre strafften sich, und die Signale gingen nach allen Richtungen. Sehr bald schlichen von den verschiedensten Seiten die Mitglieder des Trupps heran. Bald waren es zwanzig oder dreißig Jungen, und es wurden immer mehr. Lautlos glitten sie durch die Gärten, überkletterten Hecken und Zäune und krochen durch die Büsche. Auch Tanja und Njurka stellten sich ein, wurden aber zurückgeschickt. Shenja war zu Hause geblieben. Auf dem Dachboden stand Timur und gab Signale. Simakow stand neben ihm. Er blickte etwas besorgt durch das Dachfenster. „Das Signal auf Leitung sechs wird nicht beantwortet“, flüsterte er, „versuche es doch noch einmal.“ Aber es antwortete niemand. Zwei Jungen waren damit beschäftigt, auf einem Brett, das ein Plakat abgeben sollte, etwas aufzumalen. Inzwischen war auch Ladygin mit seiner Abteilung angekommen. Und endlich kamen die ersten Aufklärer zurück. Sie berichteten, Kwakins Bande sammle sich auf dem Bauplatz neben dem Grundstück Nummer vierundzwanzig. „Dann ist es Zeit“, sagte Timur. „Macht euch fertig und dann los!“ Er trat von dem Rad weg und zog an einer Schnur. Gleich darauf ging über dem Dach des Schuppens im Dämmerlicht die Fahne des Timur-Trupps hoch. Das war das Signal zum Beginn des Kampfes. Etwa zehn Jungen krochen am Zaun des Grundstücks Nummer vierundzwanzig entlang. Kwakin hielt sich im Hintergrund. Er zählte seine Spießgesellen. „Alle sind da“, murmelte er, „nur die Latte fehlt.“ „Ach, der ist schlau“, meinte jemand, „der ist sicher schon im Garten. Er drängt sich ja immer vor!“ Kwakin schob zwei Planken, die vorsorglich gelöst worden waren, beiseite und kroch durch den Zaun in den Garten. Die anderen folgten ihm. Zurück blieb nur Aljoschka. Er bewachte das Loch im Zaun. Gleich darauf tauchten aus dem Graben auf der anderen Straßenseite, zwischen Brennesseln und Steppengras, fünf Köpfe auf. Vier verschwanden im Nu wieder. Koljas Kopf blieb sichtbar, bis er von einer plötzlich hochschießenden Hand einen derben Schlag auf den Schädel bekam und sich duckte. Aljoschka, der etwas gehört haben mußte, blickte sich um. Alles blieb still. Nun steckte er den Kopf zwischen die Zaunlatten, um zu erspähen, was die Seinen trieben. Das wurde sein Verhängnis. Er spürte, wie er bei den Beinen und den Armen gepackt wurde, und ehe er einen Laut von sich geben konnte, war er bereits von dem Zaun weg und rückwärts in den Graben gezerrt worden. Zu seiner großen Verwunderung erblickte er als ersten Geika, der doch, wie er genau wußte, in der Kapelle gefangen saß. „Woher kommst du?“ keuchte er, denn immer noch wurden seine Gliedmaßen wie zwischen Schraubstöcken gepreßt. „Sei bloß still“, zischte Geika. „Wenn du einen Laut von dir gibst, mache ich kurzen Prozeß mit dir, wenn du auch heute morgen meine Partei ergriffen hast.“ „Ich bin ja schon still“, versprach Aljoschka heuchlerisch, stieß aber im nächsten Augenblick einen grellen Pfiff aus. Doch schon drückte sich Geikas breite Handfläche auf seinen Mund. Er fühlte sich von kräftigen Armen unsanft hochgehoben und davongetragen. Aber Aljoschkas Pfiff war drüben im Garten bereits gehört worden. Merkwürdig nur, daß er sich nicht wiederholte. Kwakin spähte vorsichtig nach allen Seiten. Bewegten sich die Sträucher da drüben in der Gartenecke nicht? Kwakin kroch näher heran. „Bist du das, Latte? Was versteckst du dich denn, du Dummkopf!“ Plötzlich schrie jemand: „Mischka, gib acht, die Hausleute!“ Doch es waren nicht die Hausleute. Drüben im Gebüsch flammten gleichzeitig zehn Taschenlampen auf. Geblendet und von dem plötzlichen Auftauchen des Gegners verwirrt, stürmte die Kwakin-Bande den Angreifern entgegen. „Keiner darf zurückweichen“, schrie Kwakin. „Schlagt zu!“ Er holte einen Apfel aus der Tasche und schleuderte ihn gegen eines der blendenden Lichter. Dann brüllte er: „Entreißt ihnen zuerst die Taschenlampen… los… vorwärts… da ist er ja… Timka!“ Von drüben wurde geantwortet: „Hier ist Timka, hier ist Simka“, und Simakow sprang hoch und auf die vorwärtsstürmenden Kwakin-Anhänger los. Etwa ein Dutzend Jungen folgten seinem Beispiel. „Gebt acht“, schrie Kwakin, „sie sind in der Überzahl. Hinter den Zaun, Jungens!“ Doch dafür war es bereits zu spät. Bei dem vergeblichen Versuch, in den Schutz des Zaunes zurückzugelangen, liefen die Kwakinjungen Ladygin und Geika direkt in die Arme. Ein heftiges Handgemenge folgte. Der Mond hatte sich hinter den Wolken versteckt. Es war kaum etwas zu sehen. Nur das keuchende Atmen war zu hören, dazwischen Rufe wie: „Laß mich los!“ – „Hör doch auf!“ – „Du trittst ja.“ – „Das ist gemein.“ – „Ergib dich.“ Da ertönte in der Dunkelheit Timurs helle Stimme. „Mäßigt euch, Freunde. Die Gefangenen werden nicht geschlagen. Wo ist Geika?“ „Geika ist hier!“ „Bringe du die Gefangenen her.“ „Und wenn einer nicht mitkommen will?“ „Den packt ihr bei den Armen und den Beinen und schleppt ihn her. Aber behutsam – wie einen Heiligenschrein!“ Und Timur lachte. „Laß mich los, du Teufel“, schrie eine weinerliche Stimme. „Wer jammert denn da?“ wollte Timur wissen. „Im Streichemachen seid ihr Meister. Aber wenn es euch an den Kragen geht, dann habt ihr Schiß!“ Die Gefangenen wurden einer nach dem anderen in die leere Schusterbude am Rande des Marktplatzes gebracht. Einzeln wurden sie nicht allzu sanft durch die schmale Tür ins Innere gestoßen. Als alle drin waren, befahl Timur: „Michael Kwakin soll vortreten.“ Es geschah. „Sind alle da?“ „Jawohl, alle.“ Die Tür wurde geschlossen und ein schwerer Riegel vorgeschoben. Nur Kwakin war draußen geblieben. Verstört stand er vor Timur, der seinen Gegner verächtlich mit den Blicken maß. Nach einer längeren Pause fuhr er ihn an: „Du machst dich ja lächerlich, Kwakin. Keiner fürchtet dich. Du bist aber auch keinem nützlich. Hast du je etwas Gutes getan? Niemand will etwas von dir wissen… Geh!“ Kwakin, der damit gerechnet hatte, verprügelt zu werden, stand unschlüssig und mit gesenktem Kopf da. „Du kannst gehen“, wiederholte Timur. „Hier ist der Schlüssel zur Kapelle. Hol deinen Freund Pjotr heraus.“ Doch Kwakin rührte sich nicht. „Laß erst die andern heraus, oder sperre mich zu ihnen“, stieß er hervor. „Nein.“ Timur lehnte ab. „Das geht nicht. Euer Spiel ist aus. Ihr werdet keine fremden Obstgärten mehr plündern. Ich werde dafür sorgen, daß die andern nicht mehr mitmachen.“ Als Kwakin einsehen mußte, daß Timur sich nicht erweichen ließ, schlich er, den Kopf in die Schultern gezogen, davon. Das Gejohle und Gepfeife und die höhnischen Zurufe des siegreichen Timur-Trupps begleiteten ihn. Nachdem er sich etwa zehn Schritte entfernt hatte, blieb er stehen, drohte mit den geballten Fäusten und schrie: „Ich werde dich windelweich prügeln, Timur. Mann gegen Mann. Totschlagen werde ich dich.“ Und er verschwand in der Dunkelheit. Gleichgültig und ohne Kwakins Drohungen zu beachten, wandte sich Timur jetzt seinem Trupp zu. „Ladygin“, rief er, „du und die fünf aus deiner Abteilung haben dienstfrei. Oder hattest du etwas vor?“ „Im Hof des Hauses Bolschaja Wassilkowskaja Nummer zweiundzwanzig müssen die Baumstämme beiseitegerollt werden.“ „Schön, dann macht euch an die Arbeit.“ Von der Eisenbahnstation her klang das Pfeifen einer Lokomotive. Der Vorortzug war eingelaufen. Timur hatte es plötzlich eilig. „Simakow, was habt ihr vor, du und deine fünf?“ „Na, du weißt doch – Nummer achtunddreißig Malaja Petrakowskaja.“ Er lachte. „Das Übliche: Eimer nehmen – Wasser holen – Trog füllen – dalli dalli! Auf Wiedersehen.“ „Schön, dann geht an die Arbeit.“ Der Lärm aus der Schusterbude hallte über den ganzen Marktplatz. Offenbar wurde von innen gegen die Tür geschlagen. Vorübergehende, die vom Bahnhof kamen, wunderten sich, blieben stehen und lauschten. Das Klopfen wiederholte sich, drinnen wurde gerufen und geschrien. Hinter einigen Fenstern an den Nachbarhäusern wurde es hell. Im Lichtschein lasen die Menschen, die sich angesammelt hatten, an der Budentür folgende Ankündigung: AN DIE VORÜBERGEHENDEN Wenn Ihr drinnen Lärm hört, braucht Ihr kein Mitleid zu haben. In dieser Bude sitzen Halunken, die in der Nacht die Obstgärten friedlicher Einwohner plündern. Übrigens hängt der Türschlüssel hinter diesem Plakat. Wer aber einen unserer Gefangenen herausläßt, sollte lieber zuerst feststellen, ob nicht sein Sohn oder sein Neffe dabei ist. Es war pechschwarze Nacht. Der am Tor angebrachte rote Stern mit dem schwarzen Trauerrand war nicht zu erkennen. In dem Garten, der zu dem Haus gehörte, in dem Leutnant Pawlows kleine Tochter wohnte, waren leise Geräusche zu hören. Eben ließ sich eine Gestalt von einem Baumstamm herabgleiten. An einem starken Ast waren Stricke befestigt worden, über die jetzt ein bereitliegendes Brett gelegt wurde. Dann setzte sich eine Gestalt auf das Brett, um auszuprobieren, ob die neue Schaukel auch fest sei. Der Ast knarrte leise, die Blätter rauschten. Ein aufgeschreckter Vogel stieß einen Pfiff aus und flatterte ängstlich hin und her. Es war schon spät. Olga schlief längst, auch Shenja schlief. Die Helden dieses Tages lagen in ihren Betten und schliefen: der lustige, immer zu Streichen aufgelegte Simakow, der schweigsame, zuverlässige Ladygin und der tolpatschige, gutherzige Kolja. Auch der tapfere Geika lag sicherlich längst im tiefen Schlaf, und die aufregenden Ereignisse des Tages verfolgten ihn in seinen Träumen. Da schlug die Turmuhr: bim – bam… eins, zwei!… Ja, es war schon spät. Der Tag war vorüber, die Arbeit getan. Behutsam tastete der Junge den Rasen ab, bis er einen großen Strauß Feldblumen, den er aus der Hand gelegt hatte, wiederfand. Shenja hatte ihn gepflückt. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, um die Schlafenden im Hause nicht zu wecken, stieg der Junge die vom Mond hell beleuchtete Treppe zur Veranda empor und legte den Strauß auf die oberste Stufe. Der Junge war Timur. Zur Feier der Wiederkehr des Tages, an dem die Rote Armee bei Chassan einen gewaltigen Sieg errungen hatte, veranstaltete die Jugend ein großes Fest im Park. Die Mädchen waren schon früh aufgestanden, um sich zu schmücken. Olga war dabei, sich eine frischgewaschene Bluse aufzuplätten. Nachdem das geschehen war, nahm sie Shenjas Kleider, schüttelte den Sarafan aus und legte ihn auf das Plättbrett; dabei fiel ein Zettel aus der Tasche. Sie hob ihn auf und las: „Mädchen, du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist in Ordnung, und ich verrate niemand etwas. Timur.“ Weshalb sollte Shenja keine Angst haben? Was war in Ordnung? Was sollte das heißen? Was für Geheimnisse hatte dieses verschlossene, immer zu Schelmenstreichen aufgelegte Mädchen? Olga bekam wieder ihr sorgenvolles Gesicht. Das mußte ein Ende haben. Vor seinem Weggehen hatte Papa ihr die kleine Schwester anvertraut… Was konnte sie nur unternehmen? Eines war sicher, sie mußte rasch und entschlossen eingreifen. Während Olga noch in Gedanken versunken, das erkaltende Bügeleisen in der Hand, dastand, wurde ans Fenster geklopft. Sie stellte das Bügeleisen an seinen Platz, ging zum Fenster und spähte hinaus. Georgi stand draußen und winkte. Olga öffnete und wünschte ihm einen guten Morgen. Doch er ließ sie kaum aussprechen: „Ach, Olga“, bat er, „Sie müssen mir helfen. Vorhin ist eine Abordnung zu mir gekommen, die mich gebeten hat, bei dem Fest zu singen. An einem Tage wie dem heutigen kann man so etwas schlecht abschlagen. Ich möchte Sie bitten, mich auf dem Akkordeon zu begleiten.“ Olga schien etwas verwirrt. „Ja… aber… Da wäre doch eine Klavierspielerin richtiger“, meinte sie schließlich. „Weshalb soll es denn gerade das Akkordeon sein?“ „Olga, so verstehen Sie mich doch. Ich will keine Klavierspielerin. Ich möchte von Ihnen begleitet werden. Sie spielen so gut. Das wird eine ausgezeichnete Sache. Lassen Sie doch das dumme Plätten und holen Sie ihr Akkordeon. Darf ich durchs Fenster hereinkommen?“ fragte er und hatte, ohne ihre Antwort abzuwarten, mit einem Satz das niedrige Hindernis überwunden. „So, und jetzt brauchen Sie nur zu spielen, und ich werde singen.“ Olga, deren Widerstand schon längst gebrochen war, erklärte nur noch vorwurfsvoll: „Was müssen Sie eigentlich durch das Fenster klettern, wenn eine Tür da ist?“ Im Park ging es laut und lustig zu. Ein Teil der Kurgäste kam im eigenen Auto angefahren. Lastwagen brachten Körbe mit belegten Broten, Getränken, Keks und Bonbons. Blaugestrichene Karren wurden von Speiseeisverkäuferinnen herangeschoben. Überall auf den Wiesen verstreut lagen Gruppen von Sommerfrischlern, die ihre Grammophone spielen ließen. Nun marschierte die Musik auf. Am Eingang zum Festplatz stand ein alter Mann. Er zankte gerade mit einem Monteur, der in seiner Arbeitskleidung mitsamt seinen Schlüsseln, Schraubenziehern und Haken Einlaß begehrte. „Mit dem Werkzeug kommt heute hier keiner durch. Es ist Feiertag. Geh mal erst nach Hause, wasch dich und ziehe dich festlich an.“ „Heute brauche ich keine Eintrittskarte. Hier ist doch alles kostenlos, Väterchen“, widersprach der Monteur, der nicht verstanden hatte, worum es ging. „Das stimmt. Aber so kommst du nicht herein. Hättest ja noch einen Schraubstock mitbringen können“, fertigte ihn der Alte ab. „Und du, Bürger“, rief er dem nächsten Einlaßbegehrenden zu, „hier wird gesungen und nicht getrunken. Und bei dir guckt die Flasche aus der Tasche.“ „Ach, liebes Väterchen“, stotterte der Mann, „ich muß doch herein… Ich bin doch selber Tenor.“ „Unsinn. Umkehren, Herr Tenor. Nehmt euch ein Beispiel an dem hier.“ Er wies auf den Monteur. „Der ist brav und gehorcht. Mach du es ebenso.“ Inzwischen waren die Festteilnehmer von allen Seiten herangekommen und hatten ihre Plätze eingenommen. Dichtgedrängt saßen die Zuschauer auf den Bänken und warteten auf die Darbietungen. Shenja, die von einigen Jungen erfahren hatte, Olga sei mit ihrem Akkordeon in Georgis Begleitung hinter die Bühne gegangen, saß ungeduldig zwischen ihnen. Sie war so aufgeregt, daß sie die ersten Vorführungen kaum beachtete, doch als Olga und Georgi endlich auf der Bühne standen, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Wenn Olga sich nur nicht blamierte! Wenn nur keiner ihre Schwester auslachte! Sie beruhigte sich erst, als alles still blieb und alle aufmerksam lauschten. Wie Olga und Georgi unbefangen, jung und strahlend auf den Brettern der rohgezimmerten Bühne standen, wirkten sie so anziehend, daß Shenja am liebsten aufgesprungen und auf die Bühne geeilt wäre, um ihrer Schwester um den Hals zu fallen. Nun setzte sich Olga, warf den Riemen des Instruments über die Schulter und begann zu spielen. Inzwischen schien mit Georgi, der neben ihr stand, eine seltsame Veränderung vorgegangen zu sein. Seine Gestalt war zusammengeschrumpft, er senkte den Kopf, tiefe Falten gruben sich in seine Stirn; ein gebeugter alter Mann stand auf der Bühne und sang mit bebender Stimme: „Keinen Schlaf fand ich die dritte Nacht! Lausche in die Finsternis und Stille! Wie vor zwanzig Jahren auf der Wacht lebt und brennt in mir der heiße Wille, als ergrauter Greis für dich zu streiten. Sind die Jugendjahre auch verflogen, seit ich mutig in den Kampf gezogen. Heimat, Frieden will ich dir bereiten!“ Shenja war ehrlich erschüttert. Ach, wie schön, dachte sie, und wie gut hat er gesungen. Ein Prachtkerl ist dieser Alte! Und Olga hat wunderbar gespielt. Nur schade, daß Papa sie nicht hören konnte. Nachdem die beiden geendet hatten, erhob sich brausender Beifall; Shenja war auf die Bank gesprungen und klatschte wie wild. Als der Sänger und die Akkordeonspielerin nach der Vorstellung die Allee entlanggingen, sagte Olga: „Es war wunderschön. Doch eines macht mir Sorge, wo mag Shenja stecken?“ „Ich habe sie auf der Bank stehen und Beifall klatschen sehen“, antwortete Georgi. „Sie schien begeistert und schrie bravo. Und dann kam…“ Georgi wurde rot und hielt inne. Olga blickte ihn fragend an. „Wer kam?“ „Ach… irgendein Junge… Und weg waren sie…“, stotterte der sonst so gelassene und selbstsichere Georgi. „Was war das für ein Junge?“ Olga war ernstlich beunruhigt. „Georgi, ich möchte Sie längst etwas fragen. Sie sind älter und reifer als ich. Shenja macht mir Sorge, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Hier, sehen Sie, heute morgen habe ich in ihrer Kleidertasche diesen Zettel gefunden.“ Georgi nahm den Zettel. Als er ihn gelesen hatte, sah er sehr nachdenklich aus. Nach einer kurzen Pause sagte er: „Ich weiß auch nicht recht, was das bedeuten soll. Jedenfalls will ich mir den Bengel bei Gelegenheit vornehmen.“ Olga steckte den Zettel wieder in die Tasche; sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Musik spielte lustige Weisen. Die Menschen ringsumher waren fröhlich; es wurde laut und viel gelacht. Nur die beiden jungen Menschen schienen etwas bedrückt. Unwillkürlich fanden sich ihre Hände und so schritten sie die schattige Allee entlang. An einer Biegung begegnete ihnen ein anderes Paar, das sich ebenfalls bei den Händen hielt. Es waren Shenja und Timur. Die vier jungen Menschen waren so überrascht, daß sie einander im Vorübergehen nur höflich grüßten. „Das war er“, flüsterte Olga, „das war der Junge, der den Zettel geschrieben hat.“ Georgi war verwirrt. „Dieser Junge“, sagte er, „ist Timur, mein eigener Neffe.“ „Und du… und Sie wußten das“, rief Olga empört. „Weshalb haben Sie mir nichts davon gesagt?“ Heftig entwand sie sich seiner Hand und lief hinter den beiden her, die Allee entlang. Doch weder Timur noch Shenja waren zu sehen. Ratlos blickte sich Olga um. Dann bog sie kurz entschlossen in einen schmalen Seitenpfad ein. Nach einigen Schritten traf sie auf Timur, er war nicht allein, Kwakin und die Latte standen vor ihm, von Shenja keine Spur. Olga ließ sich nicht abschrecken. Sie trat dicht an Timur heran und erklärte mit erregter Stimme: „Es genügt dir wohl noch nicht, in fremden Gärten herumzulungern, Obst zu stehlen, alte Frauen zu erschrecken und verwaiste kleine Mädchen zum Weinen zu bringen? Jetzt mußt du dich auch noch an mein Schwesterchen heranmachen und es gegen mich aufhetzen. Und du willst ein Jungkommunist sein? Ein Tunichtgut bist du, ein Schuft!“ Timur war sehr blaß geworden. Er zitterte am ganzen Leibe, wagte aber nicht, sich in Kwakins Gegenwart zu verteidigen, und erwiderte nur leise: „Das ist ja alles nicht wahr. Sie sind falsch unterrichtet.“ Er wollte weitersprechen, aber Olga schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Schweige“, rief sie. „Ich will jetzt nach Shenja suchen.“ Timur war ganz verstört stehengeblieben. Dieser plötzliche Angriff hatte ihm die Sprache verschlagen. Aber auch Kwakin und die Latte schienen sehr bestürzt und schwiegen. Nachdem Olga hinter den Büschen verschwunden war, kam Kwakin als erster zu sich. Bedauernd fragte er: „Na, Kommissar, das hat dir wohl die Petersilie verhagelt?“ Timur war sehr niedergeschlagen. Er blickte auf und sagte: „Ach ja, Ataman, das hat mir gerade noch gefehlt. Lieber hätte mich deine Bande gefangennehmen und verprügeln sollen, als daß ich euretwegen so etwas zu hören bekomme und dazu schweigen muß.“ „Weshalb hast du denn geschwiegen?“ fragte Kwakin, der offenbar Oberwasser bekam. „Du hättest ganz einfach sagen sollen: Ich bin das nicht gewesen, die hier waren es. Wir standen doch daneben.“ „Ja, das hättest du sagen sollen“, mischte sich die Latte ein. „Wie wir dir das später heimgezahlt hätten, gehört auf ein anderes Blatt.“ Kwakin, der eine solche Unterstützung gar nicht erwartet hatte, blickte seinen Kameraden kalt und stumm an. Timur antwortete nicht. Gesenkten Hauptes ging er langsam davon und ließ im Gehen die Zweige durch die Finger gleiten. „Ist der aber stolz“, sagte Kwakin leise. „Hast du nicht gemerkt, daß er beinahe losgeheult hätte? Er sagt kein Wort und geht.“ „Wir werden ihn schon noch zum Weinen bringen“, prahlte die Latte und wollte Timur nachgehen. Doch Kwakin hielt ihn zurück. „Er ist stolz“, wiederholte er, „aber du bist ein ganz schlechter Kerl.“ Und ehe die Latte es sich versah, hatte Kwakin ausgeholt und ihm einen Faustschlag gegen die Stirn versetzt, daß er zurücktaumelte. Zuerst war Pjotr bestürzt, doch dann brüllte er zornig los und rannte davon. Kwakin holte ihn ein und versetzte ihm noch ein paar heftige Rippenstöße. Dann blieb er stehen, hob seine zu Boden gefallene Mütze auf, schlug sich damit über das Knie, trat an den nächsten Eisverkäufer heran und kaufte sich eine Portion Eis. Schwer atmend, lehnte er sich gegen einen Baumstamm und lutschte gierig. Auf der Festwiese, neben der Schießbude, fand Timur seine Kameraden Geika und Sima. Als Sima seiner ansichtig wurde, trat er dicht an ihn heran und flüsterte: „Timur, du wirst von deinem Onkel gesucht, ich glaube, er ist sehr wütend auf dich.“ Zu Geikas Verwunderung antwortete Timur gelassen: „Ja, ja, ich gehe schon, ich weiß Bescheid.“ „Kommst du wieder hierher?“ wollte Sima wissen. „Das weiß ich nicht“, antwortete Timur unentschlossen. In einer ungewohnten Anwandlung von Weichheit nahm Geika die Hand seines Kameraden und sagte: „Tima, was ist denn geschehen? Du bist ja so merkwürdig. Denke daran, wir haben nie etwas Schlechtes getan, und du weißt doch, wenn der Mensch im Recht ist…“ „Ja, ich weiß… dann fürchtet er nichts auf der Welt. Aber weh tut es ihm doch, wenn er ungerecht angegriffen wird.“ Mit diesen etwas rätselhaften Worten entfernte sich Timur. Auf dem Heimweg traf Shenja auf Olga, die ihr Akkordeon nach Hause trug. Schon von weitem schrie Shenja: „Olga, Olga!“ „Laß mich in Ruhe“, antwortete Olga ungehalten, ohne ihre Schwester anzusehen. „Ich rede nicht mit dir. Ich fahre jetzt nach Moskau, und du kannst dich herumtreiben, mit wem du willst.“ „Aber Olga!“ Shenja war ganz verstört. Doch Olga schien unerbittlich. „Du hörst doch, ich rede nicht mehr mit dir. Mache dich bereit, wir fahren übermorgen beide nach Moskau zurück und werden dort auf Papa warten.“ Jetzt brach Shenja in Tränen aus. „Ach, wenn Papa nur hier wäre, ich würde ihm alles sagen. Aber dir nicht.“ Und zornig wandte sich Shenja ab. Sie lief davon, um Timur zu suchen. Auf dem Wege begegneten ihr Geika und Simakow. „Wo ist Timur?“ wollte Shenja wissen. „Er mußte nach Hause gehen“, sagte Geika. „Sein Onkel ist deinetwegen sehr böse auf ihn.“ Unvermittelt bekam Shenja einen Wutanfall. Sie stampfte heftig mit dem Fuße auf und schrie: „Was für eine Ungerechtigkeit, einen Menschen so mir nichts, dir nichts zu beschuldigen!“ Erschöpft und tränenüberströmt lehnte sie sich an einen Birkenstamm. So fanden sie Tanja und Njurka, die herbeigesprungen kamen. Schon von weitem rief Tanja: „Shenja, kommst du mit uns? Ein Harmonikaspieler ist gekommen. Es wird getanzt. Komm doch mit.“ Und sie zogen Shenja mit sich fort in den Kreis der Mädchen, deren grellbunte Kleider, Blusen und Sarafane wie Blumen auf einer Wiese leuchteten. „Was weinst du denn, Shenja?“ tröstete Njurka. „Ich weine nicht einmal, wenn mich die Großmutter schlägt. Kommt tanzen… kommt in den Kreis.“ Sie durchbrachen die Kette und begannen sich im lustig wirbelnden Tanze zu drehen. Auch Shenja hatte bald ihren Kummer vergessen und nahm fröhlich an den Spielen teil. Als Timur zu Hause anlangte, wurde er von seinem jungen Onkel mit ungewohnt strenger Miene in Empfang genommen. Ohne jede Einleitung begann Georgi: „Ich habe deine nächtlichen Abenteuer satt, Timur. Der Unfug mit den Signalen, den Klingelzeichen, dem Alarm und all dem Hokuspokus muß aufhören. Und jetzt erkläre mir erst einmal, was ist das für eine merkwürdige Geschichte mit Doktor Kolokoltschikows Schlafdecke?“ Timur errötete. „Das war ein Irrtum“, sagte er. „Ein schöner Irrtum! Alten Herren ihre Schlafdecken vom Leibe zu reißen! Er hätte dich gehörig verbleuen sollen. Und noch eins, Timur. Du läßt dieses Mädchen, die Shenja, in Ruhe. Ihre Schwester Olga will nichts von dir wissen.“ „Weshalb denn nicht?“ „Das weiß ich nicht. Doch du hast bestimmt schuld. Was schreibst du für geheimnisvolle Zettel? Was sollen diese Begegnungen beim Morgengrauen im Garten? Olga sagte mir, du brächtest diesem Mädchen nur Dummheiten bei!“ „Das ist nicht wahr“, empörte sich Timur. „Und dabei ist Olga auch Jungkommunistin. Wenn ihr etwas nicht klar war, so hätte sie mich ja fragen können. Ich kann auf alles eine befriedigende Antwort geben.“ „Das mag sein. Aber vorerst verbiete ich dir, dich dem Hause, in dem Olga und Shenja wohnen, zu nähern. Wenn du mir nicht gehorchst, mußt du zu deiner Mutter zurück.“ Er wollte sich entfernen, aber Timur hielt ihn zurück. „Onkel Georgi“, fragte er, „als Sie ein Junge waren, womit haben Sie sich beschäftigt?“ „Ich? Was für eine dumme Frage! Wir sind herumgelaufen, sind auf Bäume und Dächer geklettert, wir haben uns auch manchmal geprügelt. Aber unsere Spiele waren nicht geheimnisvoll, sondern allen verständlich, und des Nachts lagen wir in unseren Betten und schliefen.“ Um Shenja zu strafen, war Olga auf einen etwas verzweifelten Einfall gekommen. Sie war, ohne ihrer Schwester ein Wort davon zu sagen, noch am gleichen Abend nach Moskau gefahren. Da sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, und die leere Wohnung unbehaglich war, fuhr sie nicht nach Hause, sondern ging zu ihrer Freundin, blieb, bis es dunkelte, bei ihr und kehrte erst um zehn Uhr abends heim. Sie schloß die Wohnungstür auf, knipste das Licht an und zuckte erschrocken zusammen. Am Boden lag ein Telegramm. Olga nahm es auf und las. Es war eine Nachricht vom Vater. Erst am späten Abend, als das Fest bereits zu Ende war und die Bänke, die Körbe und die Verkaufsbuden auf Lastwagen abgefahren worden waren, ging Shenja nach Hause; Tanja begleitete sie. Die Mädchen wollten noch Ball spielen, und Shenja ging, um ihre Turnschuhe zu holen. Sie hatte sie eben fertig zugeschnürt, als die Witwe des Fliegeroffiziers bei ihr eintrat. Sie hielt das schlafende kleine Mädchen in ihren Armen. Als Shenja ihr sagte, Olga sei noch nicht zu Hause, schien die junge Frau enttäuscht. „Ich wollte Ihnen mein Töchterchen anvertrauen, ich muß meiner Mutter nach Moskau entgegenfahren…“, sagte sie. „Ihr Zug kommt heute nacht an. Ich wußte ja nicht, daß Ihre Schwester nicht zu Hause ist.“ „Lassen Sie die Kleine ruhig hier“, sagte Shenja. „Ob Olga da ist oder nicht, ist doch gleich. Oder haben Sie zu mir kein Vertrauen? Legen Sie das Kind dort auf mein Bett. Ich werde mich in das andere Bett legen.“ Die junge Mutter war einverstanden. „Die Kleine schläft sehr fest und wird bestimmt erst morgen früh aufwachen. Man muß nur hin und wieder nachsehen, ob sie sich nicht aufgedeckt hat.“ Mit Shenjas Hilfe wurde das kleine Mädchen entkleidet und zu Bett gebracht. Dann entfernte sich die junge Frau. Shenja warf noch einen Blick auf das schlafende Kind; dann lief sie zum Fenster und zog die Gardine auf, damit sie von draußen das Bett sehen konnte. Sie schlug die Tür zur Terrasse hinter sich zu und rannte davon, um mit Tanja Ball zu spielen. Die Mädchen verabredeten, abwechselnd zum Fenster zu gehen und nach dem Kinde zu sehen; aber über dem Ballspiel hatten sie alles übrige bald vergessen. Sie waren kaum fortgegangen, als der Postbote die Treppe heraufkam. Er klopfte lange vergeblich, und da ihm niemand öffnete, ging er zu den Nachbarn und fragte, ob die Alexandrow-Mädchen wohl zur Stadt gefahren seien, doch der Nachbar meinte, er habe Shenja eben noch gesehen und wolle gern das Telegramm für sie in Empfang nehmen. Der Postbote war einverstanden und entfernte sich. Nachdem der Nachbar das Telegramm in die Tasche gesteckt hatte, setzte er sich auf eine Bank, zündete seine Pfeife an und wartete auf Shenja. Es mochten wohl anderthalb Stunden vergangen sein, als der Postbote von neuem auftauchte. Als er des Nachbarn ansichtig wurde, rief er: „Es scheint zu brennen. Ich habe schon wieder ein Telegramm.“ Auch dieses Telegramm nahm der Nachbar in Empfang. Durch das lange Fernbleiben der beiden Mädchen nun doch etwas beunruhigt, stieg er die Stufen zur Veranda empor und spähte durch das Fenster ins Zimmer hinein. Er sah das schlafende kleine Mädchen, neben ihm auf dem Kissen hatte sich das rotbraune Kätzchen zusammengerollt. Die Bewohner des Hauses konnten also nicht weit sein. Vorsichtig stieß der Nachbar das Fenster auf und legte die beiden Telegramme auf das Fensterbrett. Shenja mußte sie bei ihrer Rückkehr sogleich bemerken. Doch als Shenja nach Hause kam, machte sie gar nicht erst Licht, sah nur nach dem Kinde, das sich bloßgestrampelt hatte, deckte es behutsam zu, hob das Kätzchen vom Kissen und setzte es vor die Tür; dann legte sie sich schlafen. Noch lange lag sie da und grübelte. Sie vermutete, daß Olga nach Moskau gefahren sei. Wie ungerecht ging es doch im Leben zu. In dieser ganzen Angelegenheit traf sie keine Schuld. Es handelte sich bei Olga offenbar um ein Mißverständnis; und nun hatte sie sich zum erstenmal ernstlich mit ihr entzweit. Natürlich machte sich Shenja Gedanken darüber, wo Olga sein mochte. Die ganze Angelegenheit bedrückte sie sehr. Der Schlaf wollte nicht kommen, statt dessen verspürte Shenja ein Hungergefühl. Sie beschloß, eine Semmel mit Marmelade zu essen. Kurz entschlossen sprang sie aus dem Bett, knipste das Licht an und trat zu dem Schrank. Da bemerkte sie die Telegramme auf dem Fensterbrett. Sie erschrak heftig. Mit bebenden Fingern riß sie die Telegramme auf und las. In dem ersten stand: Ankomme heute nacht zwölf Uhr stop bleibe bis drei Uhr morgens stop erwartet mich in der Stadtwohnung stop Papa. Das zweite kam von Olga und lautete: Sofortige Abreise notwendig stop Papa wird heute nacht in der Stadt sein stop Olga. Bestürzt sah Shenja nach der Uhr. Es war ein Viertel vor zwölf. Hastig zog sie das Kleid über, ergriff das schlafende Kind und rannte, ohne zu überlegen, zur Treppe. Doch dann blieb sie zögernd stehen. Nach kurzem Nachdenken kehrte sie in das Zimmer zurück, legte das Kind wieder auf das Bett und lief auf die Straße hinaus zum Hause der alten Milchfrau. Mit den Fäusten trommelte sie so lange gegen die Tür, bis der Kopf der Nachbarin im Fenster auftauchte. „Wer lärmt denn da?“ fragte sie verschlafen. „Was soll der Unfug?“ „Ich bin es, Shenja, und es ist kein Unfug“, kam die verzweifelte Antwort. „Bist du es, Tante Maschka, ich muß das Kind bei dir lassen.“ „Was erzählst du da für Märchen?“ fragte die Nachbarin. „Die Milchfrau ist heute morgen aufs Dorf zu ihrem Bruder gefahren.“ Ungehalten schloß sie das Fenster. Nun war guter Rat teuer. Vom Bahnhof ertönte der Pfiff des herannahenden Zuges. Völlig kopflos geworden, lief Shenja die Straße entlang und stieß im Dunkeln mit einem Manne zusammen; es war Doktor Kolokoltschikow. Als Shenja ihn erkannte, stotterte sie: „Ach, entschuldigen Sie, was ist das für ein Zug?“ Der alte Kavalier zog seine Uhr. „Das ist der letzte Zug nach Moskau, 23 Uhr 55 Minuten.“ „Der letzte“, flüsterte Shenja ganz entgeistert und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Und wann fährt der nächste?“ „Der nächste fährt morgen früh um drei Uhr vierzig. Was ist dir denn, Mädchen“, fragte der Alte und legte den Arm um Shenjas Schulter. „Du weinst ja. Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Ach nein“, schluchzte Shenja und riß sich los. „Mir kann jetzt niemand auf der Welt helfen.“ Zu Hause angelangt, warf sie sich aufs Bett und preßte den Kopf in die Kissen. Nachdem sie sich gehörig ausgeweint hatte, sprang sie wieder auf und warf einen ärgerlichen Blick auf das schlafende Kind. Doch dann schämte sie sich dieser Regung, trat zu dem Bett, glättete die Decke und jagte das rotbraune Kätzchen, das sich wieder hereingeschlichen hatte, vom Kopfkissen. Dann schaltete sie auf der Veranda, in der Küche und im Zimmer das Licht ein und setzte sich resigniert auf das Sofa. Lange Zeit saß sie da und dachte an gar nichts. Zufällig berührte sie das Akkordeon, das auf dem Sofa liegengeblieben war. Mechanisch nahm sie es auf den Schoß und drückte auf die Tasten. Erst schlug sie einige zusammenhanglose Töne an, die sich schließlich zu einer melancholischen Melodie vereinten. Nach einer Weile unterbrach Shenja das Spiel, legte das Instrument zur Seite und trat zum Fenster. Ihre Schultern bebten. Die aufsteigenden Tränen schnürten ihr die Kehle zusammen. Nein, es war zu schwer, hier allein zu sitzen mit dieser Qual. Sie zündete eine Kerze an und ging mit zögernden, unsicheren Schritten durch den Garten zu dem alten Schuppen. Dort stand noch die Leiter an der Mauer. Behutsam das Licht vor dem Winde schützend, kletterte sie hinauf. Nun war sie auf dem Dachboden. Alles war noch so, wie sie es zuletzt gesehen hatte: die Schnüre, die Landkarten, die Flaggen, die Säcke auf dem Fußboden. Mit Hilfe ihrer Kerze entzündete sie eine Laterne und ging durch den Raum. Plötzlich kam ihr ein Einfall. Nach kurzer Überlegung ging sie zum Steuerrad, fand die richtige Leitung, hakte sie ein und begann das Rad energisch zu drehen. Timur schlief ganz fest, als der struppige vierbeinige Freund ihm die Pfote auf die Schulter legte. Als der Junge darauf nicht reagierte, schnappte der Hund nach der Decke und zog sie herunter. Nun sprang Timur auf. „Was ist?“ fragte er verstört. „Ist etwas passiert?“ Im Mondlicht sah er, wie der Hund schweifwedelnd dasaß und ihn anblickte. Und nun hörte Timur auch das Klingeln des kleinen Glöckchens. Wer mochte ihn jetzt in der Nacht rufen? Er ging auf die Veranda hinaus und hob den Telefonhörer ab. „Ja, hier ist Timur, wer ist denn da… Wer? Ich verstehe nicht… Du… Shenja?“ Dann lauschte Timur angestrengt. Lautlos bewegte er die Lippen. Auf seinem Gesicht zeigten sich rote Flecke, er atmete schnell und abgehackt, und dann rief er: „Was denn? Nur drei Stunden? Shenja, du weinst ja… Ich verstehe dich nicht. Hör auf zu weinen, ich komme gleich.“ Er warf den Hörer auf die Gabel und riß den Fahrplan von der Wand. Ja, es stimmte, der letzte Zug war weg. Und der nächste ging erst um drei Uhr vierzig. Timur stand da und biß sich auf die Lippen. Was war zu machen? Er überlegte, nein, der rote Stern sollte nicht umsonst an der Pforte zu Shenjas Haus leuchten. Er selbst hatte ihn aufgemalt mit eigener Hand. Er sah ihn deutlich vor sich. Es galt, der Tochter eines Offiziers der Roten Armee zu helfen. Rasch kleidete sich Timur an und stürzte auf die Straße hinaus. Wenige Minuten später stand er vor der Tür des Hauses, in dem der alte Kavalier wohnte. Im Arbeitszimmer des Doktors war noch Licht. Bescheiden klopfte Timur an. Die Tür wurde von innen geöffnet. Der alte Kavalier erkannte ihn und fragte erstaunt: „Zu wem willst du?“ „Zu Ihnen“, antwortete Timur rasch. „Zu mir?“ Doktor Kolokoltschikow überlegte einen Augenblick, dann machte er mit einer einladenden Handbewegung die Tür weit auf und sagte: „Bitte, tritt ein.“ Ihr Gespräch war nur kurz. „Das ist alles, was wir uns vorgenommen haben“, beendete Timur seinen Bericht. „Wir haben uns diese Aufgaben gestellt, und deshalb brauche ich jetzt Ihren Kolja.“ Der alte Mann erhob sich ohne ein Wort der Erwiderung. Er faßte Timur unters Kinn, hob seinen Kopf hoch und blickte ihm forschend in die Augen. Dann ging er hinaus. Kolja schlief fest. Der Großvater packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. „Steh auf, man braucht dich.“ Erschrocken setzte sich der Junge im Bett auf. Er blickte seinen Großvater verständnislos an. „Was ist geschehen? Habe ich etwas verbrochen?“ Der alte Kavalier lächelte. „Steh auf“, sagte er. „Timur wartet auf dich.“ Nachdem Timur den Hörer niedergelegt hatte, war Shenja ins Stroh gesunken. Dort saß sie, die Hände um ihre Knie verschränkt. Sie wartete. Es verging eine geraume Weile, aber Shenja zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß ihr Freund ihr helfen werde. Draußen raschelte es im Gebüsch. Sie lauschte und blickte gespannt nach dem Fenster. Doch an Timurs Stelle tauchte Koljas Wuschelkopf im Fensterrahmen auf. „Du bist es?“ fragte Shenja verwundert. „Was willst denn du hier?“ „Ich weiß nicht“, flüsterte Kolja mit ängstlicher Stimme. „Ich habe fest geschlafen, da ist Timur gekommen. Großvater hat mich geweckt, ich bin aufgestanden. Timur hat mich hergeschickt und hat mir aufgetragen, mit dir zusammen an die Gartentür zu kommen.“ „Hat er nicht gesagt, weshalb?“ „Nein, er hat nichts gesagt. Ach, Shenja, in meinem Kopf dreht sich alles. Ich kapiere nichts davon.“ Es war für Timur nicht ganz leicht gewesen, einen Entschluß zu fassen, denn es war niemand da, bei dem er sich für sein Tun eine Erlaubnis hätte holen können. Der Onkel war nach Moskau gefahren und über Nacht dort geblieben. Timur zündete eine Laterne an, holte sich das Beil aus der Küche, rief den Hund Rita heran und ging mit ihm in den Garten. Vor dem Schuppen machte er halt. Zögernd wanderten seine Blicke von dem Beil zum Türschloß. Er wußte genau, das was er jetzt tat, war Unrecht, und dennoch sprengte er mit einem kräftigen Schlag das Schloß auf. Dann verschwand er im Innern des Schuppens und kam nach einer Weile mit dem Motorrad seines Onkels wieder heraus. Er lehnte die Maschine gegen die Schuppenwand und kniete neben dem Hunde nieder. „Rita“, sagte er und kraulte den struppigen Kopf, „du verstehst mich, ich kann doch nicht anders handeln. Und nun paß schön auf, daß keiner etwas stiehlt.“ Shenja und Kolja standen wartend an der Gartentür. Da blitzte von ferne ein Scheinwerferlicht auf, das sich im Näherkommen schnell vergrößerte. Es kam direkt auf sie zu, und nun hörten sie auch das Motorengeräusch. Blinzelnd starrten sie dem Licht entgegen, das immer näher kam und plötzlich erlosch. Das Summen des Motors verstummte. Timur stand mit dem Motorrad vor ihnen. Ohne Umschweife erklärte er: „Kolja, du bleibst hier und wirst das schlafende kleine Mädchen bewachen. Vor unserem ganzen Trupp trägst du die Verantwortung, daß ihm nichts geschieht. Und du, Shenja, steig auf. Beeile dich. Wir fahren nach Moskau.“ Shenja stieß einen Jubelruf aus, sie warf sich Timur an den Hals, umschlang ihn mit beiden Armen und küßte ihn stürmisch ab. „Steig auf, Shenja, wir haben keine Zeit, beeile dich“, mahnte Timur und versuchte möglichst streng zu erscheinen. „Halte dich gut fest. Sitzt du ordentlich? Los, vorwärts, fahren wir.“ Der Motor begann zu rattern, und bald war das rote Rücklicht den Blicken des fassungslos nachstarrenden Kolja entschwunden. Er blieb noch eine Weile nachdenklich stehen, doch dann wandte er sich kurz entschlossen um und ging den Pfad entlang auf das hell erleuchtete Haus zu. „Ach ja“, murmelte er stolz vor sich hin. „Ich trage die Verantwortung vor dem ganzen Trupp.“ In seiner Moskauer Wohnung saß Oberst Alexandrow am Tisch, auf dem ein erkalteter Teekessel stand. Sinnend starrte er auf die Reste der Mahlzeit, die ihm Olga zubereitet hatte. „In einer halben Stunde muß ich fort“, sagte er unmutig. „Es ist schlimm, daß ich Shenja nun doch nicht gesehen habe. Du weinst ja, Olga?“ „Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb sie nicht gekommen ist. Sie hat so sehr auf dich gewartet. Jetzt wird sie den Verstand gänzlich verlieren. Sie ist ja so schon ganz verdreht.“ Der Vater war aufgestanden und schritt ruhelos auf und ab. Dann blieb er vor Olga stehen und sagte: „Ich kann und will nicht glauben, daß Shenja in schlechte Gesellschaft geraten ist. Sie ist nicht der Mensch, der einem schlechten Einfluß erliegt. Das entspricht nicht ihrem Charakter.“ „Du glaubst mir also nicht?“ Olga war gekränkt. „Sage ihr das nur. Sie bildet sich schon genug drauf ein, deinen Charakter geerbt zu haben. Du darfst mir aber glauben, Vater, daß sie es mir recht schwer macht. Sie hat nichts wie dumme Streiche im Kopf: Sie klettert auf das Dach, läßt eine Schnur durch den Schornstein herab, und wie ich das Bügeleisen nehmen will, springt es hoch, daß ich vor Schreck zusammenfahre. Als du weggingst, hatte sie vier gute Kleider. Zwei davon sind jetzt schon Lumpen, aus dem dritten ist sie herausgewachsen, dafür kann sie nichts; drei neue habe ich ihr selbst geschneidert. Aber wenn sie nach Hause kommt, ist alles voller Flecke und Risse. Dann reißt sie die Augen weit auf und verzieht den Mund, daß ich lachen muß. Die andern meinen alle, sie kann kein Wässerchen trüben. Das Gegenteil ist der Fall. Glaube ja nicht, daß sie deinen Charakter hat.“ Geduldig hatte sich der Vater die lange Rede mit angehört. Nun umarmte er Olga und sagte begütigend: „Ich werde ihr schreiben. Ich glaube, du darfst keinen zu starken Druck auf sie ausüben. Sage ihr, daß ich sie liebhabe, daß ich viel an sie denke und daß wir bald zurückkehren werden. Sie soll nicht so viel weinen und immer daran denken, daß sie die Tochter eines Offiziers ist.“ „Das wird sie bestimmt“, sagte Olga und blickte den Vater aus ihren klaren Augen fest an. „Auch ich werde nicht vergessen, daß ich die Tochter eines Offiziers bin.“ Der Vater sah auf die Uhr, trat vor den Spiegel und zog seine Militärbluse zurecht. Plötzlich ging die Außentür. Beide wandten sich um. Der Vorhang wurde auseinandergerissen, Shenja tauchte in der Öffnung auf. Anstatt aufzuschreien, ging sie stumm und schnell auf ihren Vater zu und verbarg ihren Kopf an seiner Brust. Ihr Gesicht war voller Schmutzspritzer, auch das zerdrückte Kleid war fleckig, so daß Olga erschrocken fragte: „Shenja, woher kommst du? Wie bist du hierhergekommen?“ Doch Shenja hielt ihren Vater fest umschlungen und murmelte nur: „Laß mich… frage nicht.“ Der Vater zog Shenja zum Sofa, dort ließ er sich nieder und nahm sie wie ein kleines Mädchen auf seinen Schoß. Er blickte in das strahlende, schmutzstarrende Gesicht seiner Tochter und flüsterte: „Du bist doch ein Prachtkerl, Shenja.“ Olga konnte sich nicht beruhigen. „Woher bist du denn so schmutzig? Dein Gesicht ist ganz schwarz. Wie bist du hierhergekommen?“ Shenja wies stumm auf den Vorhang, und als Olga hinsah, erblickte sie Timur. Er zog gerade seine Lederhandschuhe aus. Sein Gesicht war mit Öl verschmiert, es hatte den müden Ausdruck eines Arbeitsmannes, der mit dem Einsatz aller seiner Kräfte seine Pflicht erfüllt hat. Als der Oberst aufblickte, verbeugte er sich höflich. Shenja war aufgesprungen. „Papa“, rief sie, „du darfst keinem etwas glauben. Sie wissen ja alle nichts. Das ist Timur. Timur ist der beste Kamerad.“ Der Oberst stand auf. Ohne zu zögern, reichte er Timur die Hand. Shenja warf Olga einen triumphierenden Blick zu. Olga, die immer noch nicht begriffen hatte, was vorging, trat ebenfalls zögernd zu Timur heran und sagte, noch immer nicht ganz überzeugt: „Nun denn, guten Tag…“ Da schlug die Uhr dreimal. Shenja fuhr erschrocken zusammen. „Papa, mußt du schon gehen? Unsere Uhr geht vor.“ Der Oberst lächelte: „Nein, Shenja, sie geht richtig.“ Doch Shenja gab sich nicht zufrieden. Sie lief zum Telefon und wählte eine Nummer. Der Zeitdienst meldete sich. Eine monotone, metallische Stimme sagte: „Drei Uhr und vier Sekunden.“ Shenja blickte seufzend zu der Uhr empor und sagte: „Unsere Uhr geht doch vor, Papa, aber nur eine Minute. Dürfen wir mit zum Bahnhof?“ „Nein, Shenja“, erwiderte der Oberst lächelnd, „das geht nicht. Ich habe dort zu tun.“ Er umarmte die beiden Mädchen, reichte dem Jungen die Hand und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Als Georgi am nächsten Morgen aus Moskau zurückkehrte und weder Timur noch das Motorrad vorfand, stand sein Entschluß fest; Timur mußte zu seiner Mutter nach Hause geschickt werden. Er setzte sich an den Tisch, um einen Brief zu beginnen. Erst überlegte er, wie er Timurs Mutter die Nachricht schonend beibringen konnte, und blickte dabei sinnend aus dem Fenster. Da sah er, wie ein Rotarmist auf das Haus zukam. Er ging in den Flur und öffnete die Haustür. Der Rotarmist salutierte und trat ein. Seiner Tasche entnahm er einen Briefumschlag und fragte: „Sind Sie Genosse Garajew?“ „Ja, das bin ich.“ „Georgi Alexejewitsch?“ „Richtig.“ „Hier ist ein Brief für Sie. Bitte unterschreiben Sie die Empfangsbestätigung.“ Als das geschehen war und der Rotarmist sich wieder entfernt hatte, betrachtete Georgi den Brief eingehender. Es war eine Nachricht, die er längst erwartet hatte. Georgi las die Botschaft und nickte befriedigt, dann trat er zu dem Tisch, nahm den angefangenen Brief an Timurs Mutter und zerknüllte ihn. Nein, jetzt durfte er Timur nicht fortschicken; im Gegenteil, er mußte die Mutter telegrafisch herbeirufen. Während Georgi noch dastand und überlegte, trat Timur ins Zimmer. Gerade wollte der aufgebrachte Georgi mit seinen Vorwürfen beginnen, als er sah, daß Olga und Shenja hinter seinem Neffen standen. Als Olga Georgis zorngerötetes Gesicht sah, erriet sie seine Gedanken und rief begütigend: „Zürnen Sie nicht, Georgi. Es hat sich herausgestellt, daß ich im Unrecht war. Timur ist unschuldig. Nur mich trifft eine Schuld.“ Nun mischte sich Shenja in das Gespräch ein. „Sie dürfen nicht mit ihm schimpfen. Olga, du darfst nichts auf dem Tisch anfassen“, unterbrach sie sich, „besonders nicht diese Pistole, die macht einen fürchterlichen Krach.“ Georgi schaute Shenja verständnislos an. Dann fiel sein Blick auf die Pistole und den zerbrochenen Aschenbecher. Langsam begann er die Zusammenhänge zu begreifen. „Das warst also d u damals in der Nacht, Shenja“, rief er. „Ja, das war ich“, sagte Shenja. Dann zwinkerte sie Timur zu und fuhr, zu Olga gewandt fort: „Erzähle du Georgi alles der Reihe nach. Inzwischen werden Timur und ich hinausgehen und das Motorrad putzen.“ Als Olga am nächsten Tage auf der Veranda saß, hörte sie die Gartenpforte gehen. Sie blickte auf. Ein Offizier kam den Pfad entlang. Ein wenig später stand Georgi in der Uniform eines Hauptmanns der Panzertruppe vor ihr. Olga blickte ihm fassungslos entgegen. „Was soll das heißen“, sagte sie leise, „spielen Sie vielleicht wieder eine neue Rolle?“ „Nein“, erwiderte Georgi ernst, „ich bin nur auf einen Augenblick gekommen, um mich zu verabschieden. Es handelt sich um keine Rolle, sondern um die nüchterne Wirklichkeit. Und nun habe ich noch eine Bitte an Sie, Olga, singen Sie und spielen Sie mir etwas vor, damit ich es auf den langen Weg mitnehmen kann.“ Olga nickte stumm. Durch eine Handbewegung lud sie Georgi zum Sitzen ein. Dann nahm sie das Instrument aus seiner Hülle und sang leise: „Ach, wenn ich euch nur einmal, nur einmal noch sehen könnte! Ach, nur ein einziges Mal… Fern seid ihr von hier, wann kehrt ihr zurück? Ach, ich weiß es nicht. Doch ihr kehrt zurück – irgendwann!“ „So sagte sie, „das ist ein tröstliches Lied, ein zuversichtliches Lied, nehmen Sie es mit auf den Weg.“ Georgi war aufgestanden, er lächelte sie an. „Geben Sie mir noch ein gutes Wort mit, Olga“, bat er. Olga dachte nach. Sie suchte in ihrem Herzen nach dem guten Wort und wurde ganz still dabei. Aufmerksam blickte sie in seine grauen Augen, die jetzt nicht mehr lachten. Shenja, Timur und Tanja standen im Garten. Sie schienen zu beratschlagen. „Hört zu“, sagte Shenja gerade, „Georgi geht an die Front. Wollen wir nicht den ganzen Trupp zusammentrommeln und ihm das Geleit geben?“ „Das geht nicht“, meinte Timur. „Weshalb nicht?“ „Das haben wir bei den anderen auch nicht gemacht.“ Shenja dachte nach. „Wartet mal, ich gehe nur einen Schluck Wasser trinken.“ Sie entfernte sich. Tanja lachte spitzbübisch. „Was ist los?“ Timur hatte nicht begriffen. Tanja lachte noch lauter. „Die Shenja ist schlau. Ich gehe bloß mal einen Schluck Wasser trinken – ha-ha-ha!“ Sie lachte noch, als vom Dachboden her Shenjas helle triumphierende Stimme erklang: „Ich gebe Alarmstufe eins!“ „Bist du wahnsinnig geworden?“ Timur sprang auf. „Willst du hundert Jungen auf die Beine bringen? Halt ein!“ Doch das schwere Rad drehte sich bereits knarrend, die Leitungen strafften sich. Shenja war eine gelehrige Schülerin. Sie hatte die Handhabung schnell begriffen. Überall ertönten Klingelzeichen, Blechbüchsen klapperten, es entstand ringsherum ein ungeheures Getöse. Hundert Jungen waren es nun zwar nicht, aber fünfzig fanden sich bestimmt auf das wohlbekannte Rufzeichen ein. Shenja war vom Dachboden herabgeklettert, sie sprang auf die Veranda. „Olga“, schrie sie, „wir geben Georgi das Geleit. Sieh nur, wie viele wir sind, sieh doch aus dem Fenster.“ Georgi hatte die Scheibengardinen beiseite geschoben und spähte hinaus. „Ihr seid ja ein gewaltiger Trupp“, rief er, „man kann euch direkt in den Zug verladen und an die Front schicken.“ Shenja erinnerte sich der Worte Timurs und erklärte betrübt: „Das ist verboten.“ Olga war auf die Veranda hinausgetreten; sie warf den Riemen des Akkordeons über die Schulter und rief: „Also gut, wir begleiten ihn, aber mit Musik.“ Sie traten auf die Straße hinaus. Olga spielte auf dem Akkordeon einen flotten Marsch. Als Begleitmusik begannen die Jungen mit Blechbüchsen, Gläsern und Flaschen zu lärmen. Es war ein ganzes Orchester, ein schmetterndes Marschlied. Sie zogen die von grünen Hecken umsäumten Straßen entlang, und die Zahl der Begleitenden wurde immer größer. Zuerst hatten die Passanten gar nicht begriffen, was dieser Lärm und dieser Aufmarsch bedeuten sollten. Sie konnten die Worte des Liedes nicht verstehen und stellten hier und dort Fragen. Als sie verstanden hatten, worum es ging, lächelten sie. Viele wünschten Georgi eine glückliche Fahrt und vor allem eine glückliche Heimkehr. Als sie auf dem Bahnhof anlangten, fuhr eben ein Militärzug, ohne anzuhalten, durch die Station. Die Rotarmisten in den vorderen Wagen wurden mit Rufen und Winken bedacht. In den offenen Güterwagen standen Karren, über denen die Deichseln wie ein Wald emporragten. Es folgten die Waggons mit den Pferden. Auch ihnen wurden Hurrarufe nachgesandt. Bald war der Zug ihren Blicken entschwunden, doch es dauerte nicht lange, bis der nächste folgte. Timur hatte sich schon von seinem Onkel verabschiedet. Nun trat Olga zu Georgi. „Auf Wiedersehen“, sagte sie sehr tapfer. „Es wird vielleicht lange dauern.“ Er schüttelte den Kopf und drückte ihre Hand. „Das kann man nicht wissen… Wie es das Schicksal will.“ Georgi riß sich los und bestieg seinen Waggon. Die Lokomotive pfiff, lärmend ruckte der Zug an, die Musik spielte, bis der letzte Wagen ihren Blicken entschwunden war. Olga stand in Gedanken versunken da. Shenja hielt sich neben ihr; ihre Augen leuchteten. Ohne sich der Ursache recht bewußt zu sein, empfand sie ein starkes, erregendes Glücksgefühl. Auch Timur war erregt, doch er riß sich zusammen. Mit gelassener Stimme erklärte er: „Na schön, jetzt bin ich also allein.“ Doch sogleich fügte er hinzu: „Übrigens kommt morgen meine Mama.“ „Und wir“, rief Shenja, und sie wies auf die Kameraden, „und das hier?“ Mit dem Finger tupfte sie auf den Roten Stern auf Timurs Brust. Auch Olga, die sich gefaßt hatte, war zu Timur herangetreten. „Sei unbesorgt“, sagte sie. „Du hast immer an andere Menschen gedacht und hast dich um sie gekümmert. Sie werden dir jetzt gleiches mit gleichem vergelten.“ Timur blickte auf. Er sah Shenja, Olga und die anderen. Beinahe hätte ihn die Rührung übermannt. Doch er riß sich zusammen und sagte schlicht: „Ich bin hier und will das Meine tun. Es geht alles gut, alle sind zufrieden, also will auch ich zufrieden sein.“